Ex-Model im Rollstuhl: Vom Glück im Unglück

Bei Google Russia in Moskau ist Jewgenija Woskobojnikowa (36) eine Führungskraft, zuständig für die Kommunikation mit strate­gischen Partnern. Dabei wollte sie ein Top-Model werden. Doch ein Autounfall veränderte ihr Leben von Grund auf, seitdem sitzt sie im Rollstuhl. In der Interview-Reihe „In Your Moccasins“ auf YouTube spricht sie mit der in Berlin ansässigen Kommunikationsexpertin Janina Urussowa darüber, was Glück ist, wie man das Beste aus Krisen macht und warum sie mehr arbeitet als Kollegen ohne Behinderung.

„Ein Mensch wie jeder andere“: Jewgenija Woskobojnikowa (Foto: Privat)

Versetzen wir uns noch einmal in die Zeit zurück, als Sie damals verunglückt sind. Was würden Sie von Ihrer heutigen Warte aus den beiden jungen Frauen – der vor und der nach dem Unfall – mit auf den Weg geben?

Vor dem Unfall war ich am Gipfel meiner Wünsche und Träume angelangt. Ich hatte ganz große Pläne für eine Karriere als Model und auch privat. Ich war im fünften Studienjahr und schickte mich an, meine Diplomarbeit zu schreiben. Mir standen also alle Türen offen, ich musste mich nur für eine entscheiden. Aber vielleicht ist es so: Wenn man von diesen offenen Türen verwöhnt ist, dann passiert etwas, was man am wenigsten erwartet hat. Meinem Ich von damals würde ich nur eines sagen wollen: Der Tod ist nah. Egal wie erfolgreich Sie sind, egal was für Pläne Sie haben, Sie sollten sich bewusst sein: Der Tod ist nah. Sie können sterben oder Ihre Nächsten oder jemand in Ihrer Umgebung. Wenn man das begreift, dann sieht man anders in die Zukunft. Und man beginnt, sein Verhalten und seine Verantwortung anders wahrzunehmen.

Der Schenja (Kosename für Jewgenija – Anm. d. Red.), die nach dem Unfall auf der Intensivstation lag und künstlich beatmet werden musste, könnte ich nur eines empfehlen: sich weniger auf externe Faktoren zu konzentrieren, weniger auf fremde Meinungen zu reagieren. Und sich über Kleinigkeiten zu freuen. Das habe ich erst nach einer Weile gelernt. Jetzt müssen wir es alle lernen (im Lockdown – Anm. d. Red.).

Auf ihrem YouTube-Kanal interviewt Janina Urussowa Menschen mit Behinderung. Die MDZ veröffentlicht ausgewählte Interviews.

Viele sind durch die Pandemie in eine schwierige Lage geraten. Welche Botschaft haben Sie für diese Menschen?

Ich kann nur zu positivem Denken raten. Natürlich fällt das in so einer Situation extrem schwer. Aber Sie haben die Wahl: Entweder Sie lassen sich von einer Negativsicht auf die Lage erdrücken und malen sie sich in den schlimmsten Farben aus oder Sie konzentrieren sich auf das Gute, was passieren kann, sogar ohne Ihr Zutun. Sie konnten ja nicht vorhersehen, dass es eine Ausgangssperre geben würde. Genauso unvorhersehbar kann auch Ihr Geschäft gerettet werden, können Sie wieder gesund werden und zu Geld kommen, auch wenn es heute an allen Ecken und Enden fehlt. Deshalb sollte man positiv eingestellt sein und positive Gedanken aussenden. Das mag dumm und naiv klingen. Aber zumindest bei mir hat das immer funktioniert.

„Wie ein kleiner Tod“

Es fühlt sich wie eine Vollbremsung bei voller Fahrt an, wenn man in diesen Zeiten von heute auf morgen zu Hause sitzen muss und nur im Homeoffice arbeiten kann. Sehen Sie Parallelen zwischen dem Stillstand in Ihrem Leben nach dem Unfall und dem, was mit uns passiert, mit den Menschen um uns herum, mit Freunden, Kollegen, Bekannten, ja mit ganzen Ländern?

Da gibt es schon Gemeinsamkeiten. Aber im Gegensatz zu damals hat man heute das Homeoffice, das Internet ist schnell und ermöglicht sogar Videokonferenzen, man kann soziale Kontakte mit Menschen pflegen, die weit weg sind. Das ist gar kein Vergleich zu 2006.

Klar, ein solcher Stillstand ist für viele Menschen wie ein kleiner Tod. Manche haben das Gefühl, ihr ganzes Leben stürzt zusammen. Man kann nichts planen, man weiß nicht, was in einer Woche ist oder in einem Monat. Das wirkt destabilisierend.


Jewgenija Woskobojnikowa

Sie war ein vielversprechendes Model, „Miss Perfection“ der Stadt Woronesch, als Jewgenija Woskobojnikowa 2006 auf dem Heimweg von einer Party schwer verletzt wurde: Das Auto, in dem sie saß, prallte gegen einen Baum. Fortan konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Drei Jahre vergingen, bevor sie sich damit abfand, nie wieder laufen zu können. Woskobojnikowa arbeitete beim Fernsehen, zunächst in Woronesch, später in Moskau. 2012 berichtete sie von den Paralympics in London. Seit Jahren setzt sie sich in vielfältiger Weise für die Belange behinderter Menschen ein. Die Internetzeitung „Meduza“ bezeichnete Woskobojnikowa als „medial präsenteste Person mit Behinderung“ in Russland. 2014 brachte sie eine Tochter zur Welt.

Aber andererseits braucht man solche Pausen dringend, wir könnten sie sogar regelmäßig einlegen. Sie haben einen positiven Einfluss darauf, was wir danach machen – nach gründlicher Überlegung. Ich weiß heute meine Zeit viel mehr zu schätzen als damals. Ich schätze die Möglichkeit, zu Hause bleiben zu können und meine Tochter um mich zu haben. So kann ich ihr viel mehr Energie und Wärme geben. Und ich sehe, wie nah wir uns heute sind. Eine solche Beziehung lässt sich nicht aufbauen, wenn man den ganzen Tag im Büro verbringt.


Es gibt diesen Spruch: Wenn sich eine Tür schließt, dann öffnet sich eine andere.

Ich verstehe heute, dass längst nicht alle von uns bereit sind, die nächste Tür zu öffnen, wenn sich eine andere geschlossen hat. Wir sind eher bereit, im Korridor zu bleiben, denn das ist unsere Komfortzone. Das sind die Bedingungen, an die wir uns gewöhnt haben. Und das ist der Rahmen, den wir uns selbst gesetzt haben. Diesen Rahmen zu erweitern, die Komfortzone zu verlassen und eine Tür zu öffnen, von der man nicht weiß, was sich dahinter verbirgt, diesen ersten Schritt zu machen und es zumindest zu versuchen, ist schwer.

Meiste Gebäude nicht barrierefrei

Auf welche technischen Hilfsmittel können Sie zurückgreifen, um unabhängig zu sein?

In erster Linie natürlich den Rollstuhl. Ich hatte über die Jahre ein halbes Dutzend davon. Mit der Zeit weiß man, welche Funktionen man braucht, und so wird die tech­nische Seite immer weiter optimiert. Auch ganz allgemein haben sich die Geräte weiterentwickelt.

Ich habe ein Auto, bei dem ich Gas und Bremse mit der Hand bedienen kann. Solche Anpassungen werden in Moskau vorgenommen. Außerdem habe ich eine mobile Handsteuerung, so dass ich unterwegs auch einen Mietwagen fahren kann.

Leider sind die meisten Gebäude in Moskau für uns Rollstuhlfahrer nach wie vor schlecht geeignet. Wenn es nicht die Treppe ist, bei der wir auf Hilfe angewiesen sind, dann ist es ein schmaler WC-Raum, ein enger Fahrstuhl. Es gibt leider noch viele solche Dinge.

Ohne Rollstuhl geht es nicht – mit auch nicht immer. (Foto: Meduza/Anna Iwanzowa)

In Ihrem Buch „An meiner Stelle. Die Geschichte eines Bruchs“ schreiben Sie über Ihre Zeit beim Sender „Doschd“, darüber, wie viel Sie dort gearbeitet und wie wenig Sie sich geschont haben. Wie geht es Ihnen bei Ihrem heutigen Arbeitgeber Google?

Ich habe einen Vollzeitjob bei Google, übernehme aber auch andere Projekte. Ich lehne keine Anfragen ab. Manchmal merke ich, dass das über meine Kräfte geht. Das ist ein echtes Problem. Ich habe schon mehrmals mit meinem Psychologen darüber gesprochen, was ein solches Streben auslösen kann, und auch meine Freunde dazu befragt. Es hat sich herausgestellt, dass es sehr typisch für Menschen mit Behinderung ist, viel zu arbeiten. Denn es geht um eine Art Substitution. Man hat das Gefühl, dass die Gesellschaft einen als Trittbrettfahrer ansieht, als Menschen ohne ausreichende Qualifika­tion, der nicht gut arbeiten kann, der nicht für sich einstehen kann. Vielleicht wird man für jemanden gehalten, der seine Behinderung als Entschuldigung benutzt, wenn er eine Aufgabe nicht übernehmen will oder etwas nicht machen kann. Das sitzt tief, auch bei mir. Man will beweisen: Ich bin ein Mensch wie jeder andere und meine Behinderung hat keinen Einfluss auf meine Leistungsfähigkeit im Beruf.

Vor Ihrem Unfall waren Sie auf sich selbst fixiert, auf Ihr Selbstbild in der Hochglanzwelt, und dieses Bild ist eben nicht unser eigenes. Es wird uns durch Massenmedien aufgezwungen.

Natürlich haben die Hochglanzmagazine einen großen Einfluss auf unser Leben. Aber mit zunehmendem Alter versteht man, was wirklich glücklich macht. Dass es nicht Besitz ist, sondern der Tee aus der Lieblingstasse ohne Henkel, getrunken zu Hause in einem alten Kapuzenpulli. Glück ist, wenn alle in der Familie gesund sind, wenn keiner weit weg ist und man mit allen reden kann. Gerade wenn man schwierige Phasen überwinden musste, gelangt man zu der Einsicht: Alles, was einem Freude verschafft, ist hier, ganz nah. Es ist mit Händen zu greifen.

Übersetzung: Wladimir Schirokow

Das Interview im Original: www.youtube.com/watch?v=67v_C2OHxNc&t=10s

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