Terroranschlag im Konzertsaal: Unbeantwortete Fragen

Der Terroranschlag auf den Konzertsaal Crocus City hat Russland schockiert. Die Diskussionen über die Angemessenheit der Reaktion der Spezialeinheiten, die Verantwortung der Eigentümer des Veranstaltungszentrums und die Migrationspolitik werden in schrillen Tönen geführt. Das Massaker in Fragen und Antworten.

Zwei Tage nach dem Anschlag, am 24. März, trauerte Russland um die Opfer. Blumen wurden auch am Denkmal vor dem Dubrowka-Theaterzentrum niedergelegt, wo vor 22 Jahren Terroristen während einer Vorführung des Musicals Nord-Ost das gesamte Publikums als Geisel genommen hatten. (Foto: Alexander Awilow/AGN Moskwa)

In der Geschichte des neuen Russlands hat es viele Terrorangriffe gegeben. Die Bombenanschläge in der U-Bahn, die Geiselnahme in der Schule von Beslan und in der Dubrowka-Konzerthalle in Moskau. Aber fast alle Fälle waren leicht zu erklären. Selbst diejenigen, die sich nach russischer Tradition „nicht für Politik interessieren“, verstanden sehr wohl, wer die Terroranschläge verübte und warum. Im Allgemeinen erklärten die tschetschenischen Feldkommandeure ausdrücklich, dass sie die Kämpfe aus ihrer Region nach Moskau und in andere russische Städte verlagern wollten. Es ist nicht leicht, einen Terroranschlag zu verhindern und die Täter festzunehmen. Aber damals war mehr oder weniger klar, woher die Gefahr kam.

Cui prodest?

Die Frage, wer von dem Massaker in der Crocus-Halle profitiert, hat die Russen überrascht. Die beiden zunächst konkurrierenden Theorien – Islamisten und die „ukrainische Spur“ – haben nicht alle befriedigt. Natürlich ist die Ukraine ein Land, das sich im Krieg mit Russland befindet, aber Sabotage- und Terroranschläge zielten in der Regel auf strategische Einrichtungen im tiefen Russland oder auf prominente Personen wie den Kombattanten und Frontblogger Wladlen Tatarski. Diese Version hat jedoch ernst zu nehmende Befürworter, wie Nikolai Patruschew, Sekretär des russischen Sicherheitsrates. Viele Kommentatoren verstehen auch nicht, warum die Islamisten Russland ins Visier genommen haben. Schließlich sind die Beziehungen zur islamischen Welt derzeit gut.

Doch schon bald verschmolzen beide Versionen zu einer. Alexander Bortnikow, Leiter des Föderalen Sicherheitsdienstes, sagte: „Wir glauben, dass die Aktion von den radikalen Islamisten selbst vorbereitet und natürlich von westlichen Geheimdiensten unterstützt wurde, und die Geheimdienste der Ukraine haben einen direkten Bezug dazu.“

RT-Chefin Margarita Simonjan schloss sich ihm an. „Es ist absolut klar, dass eine monströse, grausame, unvorstellbare Operation unter fremder Flagge durchgeführt wurde.“ Simonjan glaubt, dass die Ukrainer die Täter rekrutiert haben, die „ihren eigenen Kischlak für Geld abschlachten würden“. Ausländische Nachrichtendienste werden seit Langem als Auftraggeber praktisch aller Anschläge genannt, ganz zu schweigen von Protestaktionen.

Verspätete Reaktion

Mit den US-Amerikanern ist seit Langem alles klar, aber was ist mit den Warnungen vor drohenden Terroranschlägen? Am 7. März meldete die US-Botschaft die Androhung eines terroristischen Anschlags in Moskau, auch auf Konzerte. Vertreter der russischen Sicherheitsdienste bestätigten den Erhalt der Informationen, konnten aber keine konkreten Hinweise finden. Und am 19. März erklärte Wladimir Putin, die Signale der Amerikaner kämen „einer unverhohlenen Erpressung und der Absicht gleich, unsere Gesellschaft einzuschüchtern und zu destabilisieren“.

Am Ende waren die Konsequenzen für alle sichtbar. Das führt zu der Frage: Warum berichten die Leiter der Sicherheitsbehörden regelmäßig über die Verhinderung verschiedener Terroranschläge, aber dieser, der so groß war und vor dem Kollegen aus dem Ausland gewarnt hatten, wurde übersehen? Es gibt nicht weniger Fragen zu den Sicherheitskräften, die vor Ort tätig waren. Nach Angaben des Innenministeriums war die Polizei fünf Minuten nach der Meldung der Schießerei vor Ort. Warum zogen die Kämpfer dennoch in aller Ruhe ab? In den sozialen Medien häufen sich die Kommentare über die SOBR. Diese Abkürzung steht für eine Eingreiftruppe der Polizei, aber die Reaktionszeit dieser Einheit am Tag des Anschlags hat viele Menschen nicht überzeugt. Die Terroristen erwiesen sich als schneller.

Fragen an Besitzer

Der Besitzer der Crocus-Halle, der aserbaidschanisch-russische Milliardär Araz Ağalarov, geriet natürlich auch unter Beschuss. Der Duma-Abgeordnete Alexander Chinstein fragte sich, warum die private Sicherheitsfirma von Crocus, die über mehrere Dutzend Dienstwaffen verfügt, dieses Arsenal nicht nutzt. Im Nachbargebäude der Crocus-Halle „befindet sich auch eine schnelle Eingreiftruppe der privaten Sicherheitsfirma, die jedoch nach dem Terroranschlag nicht vor Ort war“, so Chinstein. Ein weiteres Problem ist die Hitzebeständigkeit der für den Bau der Konzerthalle verwendeten Materialien. Ağalarov behauptet, dass alle Bauvorschriften eingehalten wurden. Diese Worte werden allerdings seine schärfsten Kritiker kaum zufriedenstellen.

Grausam und offen

Russische Telegram-Kanäle, welche die „Sonderoperation“ befürworten, kommentieren die Aufnahmen mit Folterungen von Gefangenen sehr aktiv. So schreibt der bekannte Blogger Alexej Sukonkin, er habe Verständnis für die Kämpfer, die „diesem Abschaum“ nicht das Leben nehmen konnten und sich darauf beschränkten, „das Ohr abzuschneiden“. Zugleich ist sich Sukonkin sicher, dass „die Gesellschaft sie nicht verurteilen wird“.

Auf dem Telegram-Kanal „Grey Zone“, der der Wagner-Gruppe nahesteht, heißt es ironisch: „Einer der festgenommenen terroristischen Migranten aus Tadschikistan fiel vor Aufregung in Ohnmacht, also wurde er an ein ‚Ladegerät‘ angeschlossen.“ Allein die Tatsache, dass ein solches Video veröffentlicht wurde, wirft Fragen auf, ebenso wie natürlich das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Und solche Fragen stellen nicht nur Liberale, sondern die sogenannten Z-Autoren. Auf dem Telegram-Kanal „Nordwind“ heißt es: „Dies ist ein Zeichen für ein System, das zutiefst an Sadismus erkrankt ist.“

Sind sie die Richtigen?

Viele sind verwirrt über die Widersprüchlichkeit des Verhaltens der Terroristen während und nach dem Massaker. Russische Beamte sprechen von einem gut geplanten Anschlag. Und auf dem Video aus der Konzerthalle sind Menschen zu sehen, die bewusst und planvoll handeln. Doch nach der Schießerei und der Brandstiftung steigen die Terroristen in dasselbe Auto, mit dem sie gekommen sind, und fahren zur Grenze, wo die Konzentration von Militär- und Sondereinsatzkräften größer ist als anderswo. Nicht nur Fans von Verschwörungstheorien aller Art sprechen von einer zweiten Gruppe, der es gelang, zu entkommen, während die allgemeine Aufmerksamkeit von einem weißen Auto abgelenkt wurde.

Realität und Hoffnung

All diese und andere Fragen geben Anlass zum Nachdenken. Dieser Anschlag hat 143 Menschenleben gekostet, ist es möglich, den nächsten zu verhindern? Das Massaker in der Crocus-Halle hat einen wichtigen Punkt aufgezeigt, den alle Dienste und die ganze Gesellschaft gemein haben. Wir müssen nur ehrlich zu uns selbst sein und dürfen nicht das Imaginäre mit dem Realen verwechseln. Es schien, dass die russischen Sicherheitsdienste allmächtig sind. Aber nein. Es stellte sich heraus, der sogenannte globale Süden ist auch nicht vollkommen glücklich mit uns. Das etwas zurechtgeschnittene Fernsehbild wird von der Realität erschüttert.

Gibt es Hoffnung? Auf jeden Fall. Dies sind die 15-Jährigen, die in Teilzeit bei Crocus gearbeitet haben. Sie haben mehrere Leben gerettet, indem sie die Evakuierung des Publikums organisierten. Auch der Z-Autor Larkin hofft auf sie: „Vielleicht werden die Garderobenjungen etwas Besseres bauen, wenn sie erwachsen sind, und sie werden mit Groll auf unsere Por­träts spucken.“

Igor Beresin

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