Von Moskau nach Wladiwostok: Ein extremes Radrennen quer durch Russland

Das Red Bull Trans-Siberian Extreme ist das härteste und längste Radrennen der Welt. Zehn Athleten nahmen die Herausforderung an. MDZ-Autor Frank Ebbecke war als Reporter hautnah dabei.

Pierre Bischoff aus Deutschland, Alexej Schtschebelin aus Russland und Marcelo Florentino Soares aus Brasilien während der 14. Etappe von Chabarowsk nach Wladiwostok. / Foto: Paul Bruck.

Das legendäre „RBTSE“ Ultra-Radrennen. Einmal quer durch Russland. Über zwei Kontinente. Von Moskau nach Wladiwostok. Von der russischen Hauptstadt ans Japanische Meer. Per Zug sieben Tage. Im Flug neun Stunden. Auf dem Rad 24 Tage. Sieben Zeitzonen. Vier Klimazonen. Hitze und Kälte. Sturm und Regen. Tag und Nacht. 14 Etappen. Das Härteste. Das Längste. Weltrekord 9287,1 Kilometer. 80 000 akkumulierte Höhenmeter. Durchhalten. Muskeln und Mut. Ehrgeiz und Energie.

Zehn Extrem-Athleten haben sich qualifiziert und probten den Sieg über sich selbst. Darunter erstmalig zwei Powerfrauen: Thursday Gervais Dubina aus den USA und Shangrila Veniegas Grube Rendon von den Philippinen. Und acht Kerle. Pierre Bischoff aus Deutschland. Michael Knudsen, Peter Sandholt und Aske Søby aus Dänemark. Jegor Kuwaltschuk und Alexej Schtschebelin aus Russland. Adrian O’Sullivan aus Irland und Marcelo Florentino Soares aus Brasilien.
Erdumfang 40 070 Kilometer. Dieses Etappenrennen allein geht über so gut wie ein Viertel dieser Distanz. In nur einem einzigen Land. Die Meilensteine: Moskau – Nischnyj Nowgorod – Kasan – Perm – Jekaterinburg – Tjumen – Omsk –Nowosibirsk – Krasnojarsk – Irkutsk – Ulan-Ude – Tschita – Swobodny – Chabarowsk – Wladiwostok.

Start

18. Juli 2017. Der Start mitten in Moskau. Am Kreml. Die zehn Hauptakteure auf ihren Rennböcken strahlen um die Wette und ihre Trikots in allen Regenbogenfarben. Noch. Bis die Riesendistanz, streckenweise der Straßenzustand, die wuselige Verkehrslage, möglicher Wetterumschwung sie vielleicht einholen. Aber am Starttag sehen alle Faktoren eher gut aus. Schlappe 404 Kilometer.

Das sagen sich auch an die Hundert andere Menschen um die zehn rennfahrenden Helden der Extrem-Tour herum. Ein gewaltiger Tross. Zum Auf- und Abbauen. Feintunen und Reparieren. Verarzten und Massieren. Bekochen und Ummuttern. Filmen und Fotografieren. Reportieren und Protokollieren. Ermutigen und Aufmuntern. Und natürlich fahren und Gefahren werden. Die 27 begleitenden Mulitivans müssen schließlich auch sicher bewegt werden. Von Ort zu Ort. Als Transporter, Küche, Ambulanz, Werkstatt, Schlafzimmer. Eine so eingespielte wie engagierte Mannschaft, die beim dritten Mal in Folge fast wie ein verschworener Familienverband wirkt. Paul Bruck ist quasi der begleitende „Gründervater“ dieses verrückt-harten Sport-Wettbewerbs durch das größte nationale Territorium der Erde. Bis 2013 hatte der Österreicher mit Radrennen gar nicht viel am Hut. Mit Russland schon.

In Reih und Glied: Hauptakteure des Radrennens vor dem Start auf dem Roten Platz. / Foto: Paul Bruck.

Heerscharen von Straßen- und Stadtpolizei, Gouverneursämtern, Bürgermeistern und vielen anderen Offiziellen sind vorgewarnt, wo auch immer die „RBTSE“-Kolonne im Riesenland einfällt. Auch sie garantieren für das Grund-Credo aller Beteiligten „Sicherheit und Gesundheit“. Hat perfekt geklappt. Genau wie die so vollmundige wie reichliche Versorgung mit Speisen und Getränken zwischendurch. Für sie ist schon seit der ersten „RBTSE“ der deutsche Chefkoch Heiko Appenrodt mit seinen sechs einheimischen Küchenhelfern vernatwortlich.

Warm-up

Das längste und härteste Straßenrennen der Welt? Keine Übertreibung. Kein vollmundiger Werbespruch. Einfach mal diejenigen fragen, die sich dieser extremen Herausforderung freiwillig gestellt haben. Heftig und oft geprüft von Schlaglöchern und Spurrillen, drängelnden Autos und dröhnendem Verkehrslärm. In der ersten Etappe raus aus dem Moskauer Gewusel bis ins beschaulichere Nischnyj-Nowgorod am Zusammenfluss von Wolga und Oka. Alle noch dabei. Aber schon am zweiten Tag nicht mehr: Für eine der beiden Frauen, Thursday aus den USA, war mittendrin schon Schluss. Wie später nach und nach auch für sechs andere Sportler.

Wenigstens die Organisations- und Unterstützungsmannschaft kann in den Begleit-Volkswagen eine sanft-hügelige Landschaft genießen. Üppig grüne Wiesen mit roten, gelben, violetten Blüten gesprenkelt, sattbraune Felderflächen. Der Blick geht so weit ins Unendliche, dass es die Augen kaum fassen können. Nur hier und da unterbrochen von Wäldern und ein paar Straßendörfern. Typische alte, geduckte Holzhäuser mit Giebel nach vorn und reich geschnitzten Fensterrahmen. Viele sitzen davor auf Kisten oder Hockern. Sie bieten Hausgemachtes oder selbst Gesammeltes aus Wald und Garten an. Wie zum Beispiel die herrlichen Pfifferlinge, die im Riesenkochtopf der mobilen „RBTSE“-Küchenbrigade gelandet sind.
Wenn während der ersten Tage der Blick schon bis ans Ende der Welt zu reichen scheint, was ist dann erst in den nächsten zwei Wochen im sibirischen Tiefland zu erwarten? Leere und Stille der Taiga. Unberührte Natur pur. Zum frei Durchatmen. Da passt das Fahrrad als Fortbewegungsmittel doch wohl genau hinein.

MDZ-Autor Frank Ebbecke im „VW-Büro“ beim RBTSE. / Foto: Paul Bruck.

Halbzeit

Die Gesichter gerötet, schon leicht sonnengebräunt, verschmiert und verschmutzt. Wenn die Helden die Schutzbrillen abnehmen, sehen sie fast wie Eulen aus. Nur schnell Ruhe, gezielter Wiederaufbau von Mensch und Maschine. Denn am selben Abend um 22 Uhr mussten sie sich wieder in die Sättel schwingen. Ab Omsk geht es in die heimliche Hauptstadt Sibiriens, nach Nowosibirsk. 611 Kilometer. So richtig ausgeschlafen sehen sie nicht gerade aus, die tapferen Russland-Durchquerer.

Die siebte Etappe. Gerade Halbzeit. Es ist stockdunkel. Lange Strecken der Fahrbahn sind brandneu, schnurgerade, trocken und so gut wie leer. Nur die „RBTSE“-Konkurrenten mit dem gesamten Tross stören den ländlichen Frieden der Nacht über Sibirien. Und die Flugscharen der surrenden, blutgierigen Moskitos. Kaum einer ist mehr von kleinen Hautbeulen und Rötungen an Armen, Beinen und im Gesicht verschont.

Endspurt

Die verbliebenen vier, der Brasilianer, der Däne, der Deutsche und der Russe mit „Heimvorteil“ samt ihren Teams gingen unter blauem Himmel und strahlender Sonne frohen Mutes an den nächsten Start: nach Ulan-Ude, der Hauptstadt vom russischen Landesteil Burjatien.

Nach 12 Tagen hinter Irkutsk. Raus aus der Kulisse dieser sehenswerten Stadt, gehen die starken Steigungen und Neigungen der gut ausgebauten Magistrale auch schon los. Für erfahrene Rennbiker das ideale Terrain. Mittlerweile wird es schwer zu sagen, welche Etappen der „RBTSE“ die verführerischsten Reize der Umgebungsnatur bieten. Dichte Tannenwälder, die zahlreich mittelhohe Berge bis hinter den Horizont bedecken, erinnern an die berühmte Schwarzwald-Hochstraße. Dann plötzlich eine letzte, entscheidende Kurve: Da breitet er sich majestätisch aus, der größte Süßwassersee der Welt, der russische Stolz, der kristallklare Baikalsee. Über 600 Kilometer lang mit wechselnder Breite, bis zu 1 642 Meter tief, 25 Millionen Jahre alt.

Entlang der Rennstrecke: Straßenverkäufer bieten Gesammeltes aus Wald und Garten an. / Foto: Paul Bruck

Ziel

10. August. In Wladiwostok. Unweit der Grenzen zu China und Nordkorea. Und schon wieder eine wahre Perle des spärlich urbanisierten Ostens. Auf einer vorgelagerten Insel malerisch am Ozean gelegen, erstreckt sich die zu Sowjetzeiten „verbotene Stadt“ über viele Hügel – ähnlich wie San Francisco auf der anderen Seite des Pazifiks. Zwei neue Wahrzeichen der Stadt sind zwei Brücken, die nicht nur hohe Ingenieurskunst, sondern auch moderne Nutzarchitektur augenfällig beweisen: die Solotoj-Brücke und die Russkij-Brücke, längste Schrägseilbrücke der Welt. Genau über die fahren die drei übrig gebliebenen Ultra-Biker die letzten Meter. Pierre Bischoff aus Duisburg wird Zweiter. Den Gesamtsieg holt sich Alexej Schtschebelin aus St. Petersburg. Marcelo Soares aus São Paulo ist über seinen dritten Platz sprachlos und überglücklich.

Von Ort zu Ort: 27 Multivans begleiteten die mutigen Radprofis quer durchs Land. / Foto: Paul Bruck.

Auf dieser Riesenreise ist an Superlativen und Schwärmerei kaum vorbeizukommen. Das Ultra-Cycling Erlebnis war schlussendlich wie eine Freundschaftsfahrt – das Unbekannte, die Einsamkeit in der unergründlichen Weite haben zusammengeschweißt. Über alle Nationalitäten hinweg. Eine Erkundungsfahrt nicht nur durch Russland, sondern genauso für Russland. „Doswidanja“ – Auf Wiedersehen und „Spasibo“ – Danke. Sibirien – deine Welt ist schön. Schöner als gedacht. Und beigebracht.

Am 24. Juli 2018 geht es wieder auf die russische Straße.

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