„Ein zweites Bolotnaja wird es nicht geben“

Sie galt all die Jahre als ein zartes Pflänzchen in Russland: die Zivilgesellschaft. Doch in jüngster Zeit entwickelt sie sich schnell und dynamisch. Wo das gesellschaftliche Engagement sichtbar ist und in welche Richtung es sich bewegt, diskutierten russische Aktivisten in Berlin.

Die Protestwelle zwischen 2012 und 2013 war die größte in Russland. Sie zog Hunderttausende auf die Straße. / Foto: Farhad Sadykow / Flickr.

Das Mauermuseum in Berlin befindet sich am Checkpoint Charlie, wo früher die Grenze zwischen dem sowjetischen und amerikanischen Sektor verlief. Hier gab bereits Michail Chodorkowskij seine Pressekonferez. Dieses Mal versammelte hier der „EU-Russia Civil Society Forum“ Aktivisten aus Russland, um zu diskutieren, wohin die Zivilgesellschaft in Russland steuert.

Zivilgesellschaft – das ist ein Leitbild einer demokratischen Gesellschaft, die durch absolute Achtung der Menschenrechte gekennzeichnet ist. Jedes Mitglied nimmt sein Schicksal in die Hand und wird mit anderen Bürgern und Bürgerinnen aktiv. Selbstorganisation heißt hier das Stichwort.

Obwohl manche sagen würden, dass es im heutigen Russland keine Zivilgesellschaft gibt, zeugen doch jüngste Beispiele davon, dass sie wächst und gedeiht. Spätesten nach den Anti-Korruptions-Demonstrationen am 26. März 2017 wurde klar, dass eine Schicht von jungen und gebildeten Menschen herangewachsen ist, die anders denkt und mit den aktuellen Geschehnissen im Land unzufrieden ist.

Mit Bildungsprogrammen zur Zivilgesellschaft

Ein zentrales Anliegen vieler Bildungsprojekte ist es, kritisches Denken zu fördern, um zivilgesellschaftliches Engagement zu aktivieren. Das Projekt „Interra“ in Krasnojarsk beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesem Ziel. Doch die Leiterin Jelena Bobrowskaja stößt bei ihrer Tätigkeit auf zahlreiche Probleme. „Obwohl die Menschen in den Regionen mit der Regierung und den Entwicklungen im Land unzufrieden sind, wollen sie nicht an politischen Protesten teilnehmen. Ihre Unzufriedenheit lenken sie lieber in friedlichere Bahnen“, erklärt Bobrowskaja. Dort, wo es ungefährlich sei. Zum Beispiel setzen sich Menschen in Krasnojarsk aktiv für Umweltschutz in ihrer Stadt ein. Im benachbarten Nowosibirsk konnte dank zahlreicher Protestteilnehmer die Erhöhung der städtischen Betriebskosten gestoppt werden.

Mit Bildungsprogrammen befasst sich auch der Deutsch-Russische Austausch in St. Petersburg. Die NGO setzt dabei auf Zusammenarbeit mit der EU, erklärt die Leiterin Jelena Belokurowa. Auch Anastassija Sotowa, Leiterin der Menschenrechtsorganisation „Gebiet der Folter“ (Territorija Pytok) ist der Meinung, dass es ohne Bildungsprogramme unmöglich sei, Zivilgesellschaft aufzubauen.

Dass sich zivilgesellschaftliches Engagement auch aus persönlicher Motivation entwickeln kann, zeigt Sotowas Geschichte. Ihr Interesse entstand, als ihr Mann, der eine Haftstrafe in einer Kolonie absaß, darüber klagte, dass er geschlagen und gefoltert werde. Anastasia hatte Kontakte zu Menschenrechtsverteidigern, aber keine Organisation war bereit, ihr zu helfen. Danach beschloss sie, selbst aktiv zu werden und gründete eine Organisation. „Viele Menschen rufen uns an und berichten, dass sie im Gefängnis misshandelt werden. Wir versuchen mit unterschiedlichen Mitteln, den Gefangenen zu helfen. Wenn nötig gehen wir auch vor Gericht“, berichtet Sotowa.

Ein Teilnehmer der Anti-Korruptions-Demonstration am 26. März 2017 in St. Petersburg mit dem Plakat: „Korruption raubt die Zukunft“. / Foto: Farhad Sadykow / Flickr.

Dass es um die Bürgerrechte in Russland kritisch steht, stimmten alle Diskussionsteilnehmer überein. Es genüge daran zu erinnern, dass sich 30 wichtige NGOs im Bereich Menschenrechte, Ökologie und Wissenschaft auf der List ausländischer Agenten befinden.

Sobald es in Russland wirklich faire Gerichtsverfahren gibt, werden alle Probleme gelöst sein, meint Jelena Schachowa, Vorsitzende der St. Petersburger Organisation „Bürger-Kontrolleur“ (Graschdanskij Kontrol). Die Organisation wurde 1992 von sowjetischen Dissidenten gegründet und 2014 als ausländischer Agent klassifiziert.

Aktuell sprechen Experten von einem Boom der Freiwilligenarbeit und des Aktivismus in Russland. Dass man diese Einschätzung mit Vorsicht genießen sollte, meint auch Jelena Bobrowskaja. „Es gibt Menschen, die wir Bildungs-Touristen nennen. Sie betiteln sich in jedem Lebenslauf als Aktivisten, aber sie sind weit von diesem Bewusstsein entfernt.“

Sicherer statt politischer Aktivismus als Ausweg

Laut einer aktuellen Umfrage des Lewada-Zentrums glauben 70 Prozent der Russen, dass sich in ihrem Land nichts ändern wird. Das reiche, um nicht an Protesten teilzunehmen, meint Belokurowa. Zudem erinnern sich viele an ihre Enttäuschung, als sie sich an den Protesten in den Jahren 2011 bis 2012 beteiligt hatten. Einer von ihnen ist Alexei Koslow, Menschenrechtsaktivist und Geschäftsführer von „Solidarus e.V.“. Er war nach den Bolotnoja- Protesten gezwungen, Russland zu verlassen und lebt heute in Berlin. Ihm zufolge hat Putin bereits 2012 den Grundstein für die Wahlen im nächsten Jahr gelegt. Während dieser Zeit wurden die Versammlungsfreiheit begrenzt und die Proteste kriminalisiert. „Jede Entwicklung der Zivilgesellschaft ist eingefroren. Ein zweites Bolotnaja wird es nicht geben und auch viele neue Proteste wird es nicht geben, denn es gibt nicht genug Aktivisten“, äußert sich auch Jelena Schachowa pessimistisch.

In einem Punkt sind sich die Experten aber einig: In der Gesellschaft stößt eher sicherer Aktivismus, wie etwa Inklusion oder Urbanismus auf breiten Zuspruch. Diese Tätigkeit kann schließlich zu einer Konsolidierung der Aktivisten führen und die Entwicklung der Zivilgesellschaft voranbringen.

Von Anna Andrjeweskaja 

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