Der jüngste Protest: Protokoll einer Standortbestimmung

Ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen rumort es wieder in Russland. Landesweit gingen am 26. März Zehntausende auf die Straße und forderten Antworten auf Korruptionsvorwürfe gegen Premier Medwedew. Dabei wehte ein durchaus frischer Wind. Auffallend waren die große Zahl an Jugendlichen und die starke Beteiligung in den Regionen. In Moskau hat sich die MDZ selbst ein Bild von der Aktion gemacht.

Protest

Den jungen Demonstranten standen vielfach nicht minder junge Polizisten gegenüber. / Tom Vennink

Der Hintergrund

Alexej Nawalnyj ist Millionär. Zumindest, wenn es um die Klicks auf sein Enthüllungsvideo zu Dmitrij Medwedew geht, das auf YouTube bisher mehr als 13  Mil­lionen Mal angesehen wurde. Der 50-minütige Film legt ein „Geheim­imperium“ des russischen Ministerpräsidenten offen, das behaupten zumindest Kremlkritiker Nawalnyj und seine Antikorruptionsstiftung FBK. Medwedew soll über undurchsichtige Firmenkonstrukte Villen im In- und Ausland, Weingüter und Jachten erworben haben. Eine Reaktion auf die Vorwürfe blieb aus. Nawalnyj rief daraufhin für den letzten Sonntag im März zu einer landesweiten Protestaktion gegen Korruption auf.

Das Vorgeplänkel

In etwa 100 Städten in ganz Russland versuchten Aktivisten, sich mit den Behörden ins Benehmen zu setzen. Doch nur 24 Stadtverwaltungen gaben für die angekündigten Demos grünes Licht. Meist wurde eine Genehmigung mit der Begründung abgelehnt, auf den zentralen Straßen und Plätzen seien bereits andere Veranstaltungen geplant. Als Veranstalter für viele dieser Events wurde dabei laut Recherchen von TJournal die Jugendorganisation der Regierungspartei „Einiges Russland“ genannt. Auch in Moskau und St.  Petersburg konnte keine Einigung erzielt werden. Die Polizei warnte über die Medien vor einer Teilnahme an der Aktion: Sie könne keine Verantwortung für die Sicherheit der Demonstranten übernehmen.

Die Gesetzeslage

Von der russischen Verfassung wird die Versammlungsfreiheit als hohes Gut geschützt. Die Behörden können selbst politische Kundgebungen nicht einfach verbieten, nur weil sie ihnen nicht in den Kram passen. Straßenprotest ist auch nicht genehmigungs-, sondern nur anmeldungspflichtig. Sollten triftige Gründe dagegen sprechen, die jeweilige Veranstaltung zur genannten Zeit am genannten Ort stattfinden zu lassen, dann muss die Stadt den Organisatoren binnen drei Tagen Alternativvorschläge unterbreiten. Tut sie das nicht oder nicht fristgemäß (so scheint es in Moskau gewesen zu sein), gilt die Veranstaltung laut einem Kommentar des Verfassungsgerichts von 2013 als genehmigt. Darauf berief sich Nawalnyj, während die Stadt als Ausweichorte für die Twerskaja-Straße den Park Sokolniki und einen Stadtbezirk in Randlage genannt haben will, wie in den Medien zu lesen war.

Die Demonstranten

Der Radiosender Echo Moskwy gibt die Zahl der Teilnehmer in 82  Städten mit 60.000 an. In Moskau spricht die Polizei von 8000, die Opposition will 25.000 bis 30.000  Menschen bei den Massenprotesten gezählt haben. Nicht zu übersehen sind die vielen Jugendlichen im Schüleralter. Der Fernsehsender Doschd wird später von der „Generation YouTube“ sprechen, die erstmals den Widerstand probt.

Die Aktion beginnt als Spaziergang an der Twerskaja entlang, mit den dort befindlichen Metrostationen als Ausgangspunkt und ohne konzertierte Regie. Nur die Laufrichtung soll verraten, wie viele sie sind. So hat es Nawalnyj im Internet angeregt. Er selbst wird sofort in Gewahrsam genommen, als er die Szenerie betritt.

Der Puschkinplatz

Als am Mittag immer mehr Menschen auf den Puschkinplatz, das Epizentrum des Protests, strömen, stehen etwa 30 Polizeibusse bereit. Polizisten mit Helmen, Rüstung und Schlagstöcken sperren, Arm in Arm eingehängt, alle Fußgängerübergänge auf den Platz ab. Viele Menschen drängen sich jedoch an der Absperrung vorbei. Es fällt schwer, zwischen Demonstranten, Schaulustigen und Passanten zu unterscheiden, weil die meisten hier keine auffälligen Merkmale oder Plakate bei sich haben. Der Protest liegt oft im Detail, ein älterer Herr hat an seiner Kappe etwa eine „Russland ohne Putin“-Schleife befestigt. Viele haben gelbe Plastik­enten mitgebracht. Die Ente ist zum Symbol der Antikorruptionsbewegung geworden, sie steht dafür, wie sich die Obrigkeit bereichert: Wie Luftaufnahmen in einem Video zeigen, hat Premier Medwedew auf einem seiner Anwesen sogar den Enten eine kleine Villa bauen lassen.

Während ein junger Mann auf eine Laterne klettert und ein Paar Laufschuhe dort befestigt, skandiert die Menge: „Toll gemacht!“ Mit den Schuhen hat es eine ähnliche Bewandtnis wie mit den Enten: Medwedew soll sich über eine Scheinfirma regelmäßig Laufschuhe bestellt haben.

Die Stimmung auf dem Puschkinplatz ist ausgelassen bis feierlich. Ein Polizeihubschrauber, der über dem Gelände kreist, sorgt mit seinem ständigen Surren jedoch für eine Grundspannung.

Die Polizei

Um 15 Uhr, eine Stunde nach Beginn der Aktion, beginnen auf der Westseite des Platzes die Festnahmen. Immer wieder stößt ein Trupp aus Polizisten in die Menge vor, packt einen Demonstranten und bringt ihn in den Polizeibus. Wer sich wehrt, wird getragen oder über den Boden geschleift. Als der Bus voll ist und mit Blaulicht und Sirene abfährt, rückt schon der nächste nach. Ein alter Mann rappelt sich mühsam vom Boden auf und streckt den Polizisten die Faust entgegen. „Wer provoziert hier?“, schreit ein Demonstrant. „Schande“, hallt es aus der Menge.

Neben Einheiten der Polizei sind auch OMON-Polizisten und Soldaten im Einsatz. Die meisten von ihnen sind als Absperrung zwischen Fußweg und Straße postiert, damit der Autoverkehr nicht beeinträchtigt wird. Eine Rentnerin mit rosa Sonnenhut, die einem jungen Soldaten aus nächster Nähe Beschimpfungen ins Gesicht brüllt, bekommt keine Reaktion. Rigoroser wird dafür gegen junge Demonstranten vorgegangen. Ein Transparent in die Höhe gestreckt  – festgenommen. Ein Protestschild am Fahrrad montiert – festgenommen. Grüne Bemalung im Gesicht  – festgenommen. So löst die Polizei nach und nach die Kundgebung auf, nach zwei Stunden ist die Menschenansammlung am Platz bereits deutlich schütter.

Nach offiziellen Angaben landen insgesamt 600 Menschen in den „Awtosaki“, den weißen Polizeibussen. Menschenrechtsorganisationen sprechen von mehr als 1000  Verhafteten.

Das Danach

Die Staatsmedien ignorierten den Protest weitgehend. Erst einen Tag später fand er erstmals Erwähnung im TV-Sender Rossija-1. Dafür war die Berichterstattung in den großen Internetzeitungen und in den so­zialen Netzwerken umso ausführlicher. FBK und Doschd übertrugen sogar live.

Am Sitz von FBK wurde noch während der Protestaktion das gesamte Team der Stiftung festgenommen, die Technik konfisziert und das Büro für den Zutritt gesperrt. Der Grund dafür war nach offiziellen Angaben ein nicht angemeldeter Livestream.

Die vereinzelten Protestplakate und auf Laternen drapierten Laufschuhe am Puschkinplatz wurden  von der Stadtreinigung entfernt, kaum dass die Teilnehmer nach Hause gegangen waren. Anderntags stand Alexej Nawalnyj vor Gericht. Als Organisator einer „nichtgenehmigten Demonstration“ wurde er zu 15 Tagen Haft und umgerechnet  320 Euro Geldstrafe verurteilt. Vor Journalisten sagte er, bei der Demo habe man eine „neue Generation“ erlebt, die sich nicht mehr einschüchtern lasse.

Paul Krisai, Tino Künzel

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