„Wollen die Russen Krieg?“

Mariupol, Cherson, Charkiw. Diese Ortsnamen hört man in den Berichten des russischen Verteidigungsministeriums schon seit einer Woche immer wieder. Menschliche Verluste auf beiden Seiten. Man will es nicht wahr haben. Ist es wirklich so weit gekommen? Ja, ist es. Und damit werden wir nun leben müssen.

Denkmal in Moskau. Die Wiederholung der Schrecken des Großen Vaterländischen Kriegs wünscht sich niemand in Russland. (Foto: AGN Moskwa)

Ein ikonisches Fernsehbild dieser Tage sah wir folgt aus: Der Rus­sische Präsident besucht die Arbeiter an der Baustelle eines neuen Weltraumzentrums. Menschen mit Helmen und Spezialkleidung stehen in einigem Abstand zu dem rang­hohen Gast kerzengerade aufgereiht. Der Abstand ist so groß, dass der berühmte lange Tisch, an dem Wladimir Putin noch vor gar nicht langer Zeit Bundeskanzler Olaf Scholz empfangen hat, zwei Mal in die Lücke passen würde. In der Mitte der Gruppe aus Arbeitern steht ein junger Mann mit athletischer Figur. Er wendet sich an den Präsidenten: „Wir unterstützen Sie, wir sind an Ihrer Seite, wir unterstützen unsere Jungs!“ Die restlichen Arbeiter setzen daraufhin im Chor ein: „Hurra! Hurra!“

Doch im Land gibt es auch andere Meinungen, wenn auch die Stimmen des Protests dieser Tage nicht so laut zu hören sind, wie die der Befürwortung. Warum das so ist, dürfte im Wesentlichen klar sein. Viele Radio- und Fernsehsender oder Zeitungen, die bislang bereitwillig die Meinungen oppositioneller Politiker und Kommentatoren veröffentlichten, ändern heute ihren Ton, weil man ihnen wegen ihrer Berichterstattung über die „Sonderoperation“ mit Sperrungen und Verfahren droht. Was den Medien nicht erlaubt ist, kann man Privatbürgern jedoch nur schwer verbieten. Jeder Einsatz militärischer Streitkräfte, bei dem zwei Seiten aufeinander schießen, wird von der Bevölkerung recht eindeutig wahrgenommen.

Militäreinsätze führen immer auch zu einer Spaltung der Gesellschaft, egal mit welchem Ziel sie begonnen werden. Genau das passiert gerade in Russland.

Woher rührt die Spaltung der Gesellschaft?

Wollen die Russen Krieg?“, heißt es in einem bekannten so­wjetischen Lied. Dort findet man auch die Antwort: Nein, Krieg wollen weder die russischen Soldaten noch ihre Mütter und Frauen. Würde man die gleiche Frage heute stellen, praktisch alle Russen würden genauso antworten. Das gilt auch für die, die auf der Baustelle des Weltraumzentrums ihr „Hurra!“ dem Präsidenten entgegenriefen.

Doch wenn alle sich zum Frieden bekennen, woher kommt dann die Spaltung in der Gesellschaft? Daher, dass ein Teil meint, der Westen könne und müsse den Schrecken, der die Ukraine überzogen hat, beenden, dass er die Situation gar „provoziert“ und in Kiew ein „Marionettenregime installiert“ hätte. Während der andere findet, Moskau müsse mit den Kämpfen aufhören.

Trotz allem gibt es kritische Äußerungen

Der Vorwurf an die, welche den Einsatz ganz ablehnen, klingt dabei von beiden Seiten gleich: „Und wo wart ihr die letzten acht Jahre?“ Wenn Ukrainer diesen Satz Russen entgegenwerfen, dürfte klar sein, was gemeint ist. Doch die gleiche Frage stellen auch diejenigen, die all die Jahre wiederholt haben, dass die Menschen in den damals noch nicht anerkannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk von der Ukraine beschossen werden. Und auch sie haben recht. Die russische Gesellschaft hat all die Jahre gehofft und sogar geglaubt, dass sich die Probleme im Osten der Ukraine irgendwie von selbst lösen. Und vielleicht noch wichtiger: Jeder ist längst daran gewöhnt, dass Präsident und Regierung ihren einmal eingeschlagenen Kurs kaum jemals ändern.

Man kann auf Demonstrationen gehen, zumindest auf solche, die von der Regierung erlaubt werden. Bei ungenehmigten Protesten hingegen werden Teilnehmer reihenweise von der Polizei festgenommen. Mal in aller Ruhe und ganz unspektakulär, mal mit brutaler Gewalt. Man kann Petitionen und Appelle unterzeichnen. Doch all das hat für gewöhnlich kaum einen Effekt. Warum sprechen und schreiben Menschen, Organisationen, oder Berufsverbände also überhaupt darüber, was derzeit in der Ukraine passiert? Wie es Jurij Dud, einer von Russlands berühmtesten Videobloggern, formulierte: einfach, um die eigene Position klarzustellen.

Appelle zur Klarstellung der eigenen Position

An Versuchen, Stellung zu beziehen, mangelt es nicht. So verfassten etwa Studenten und Beschäftigte des Solkowo-Instituts für Wissenschaft und Technologie, sowie Mitarbeiter und Absolventen des Moskauer Instituts für Physik und Technologie, der Moskauer Staatlichen Universität und der Higher School of Economics offene Briefe, in denen sie zum Protest gegen die Militäroperation in der Ukraine aufriefen. Solche Schreiben unterzeichneten mehr als 4500 Lehrkräfte. Die Beschäftigten des Medizinsektors wandten sich sogar direkt an den Präsidenten: „Die Kampfhandlungen werden so viele Leben fordern, so viele Schicksale zerstören, dass wir trotz aller Anstrengungen nicht in der Lage sein werden, zu helfen.

Vor Schmerz schreien und nach ihren Müttern rufen werden alle in derselben Sprache.“ Diesen Appell unterzeichneten mehr als 11.000 Ärzte, Sanitäter und Krankenpfleger. Architekten und Drehbuchautoren, Köche und Übersetzer, Anwälte und Ökonomen: Menschen mit den verschiedensten Hintergründen äußern sich in der Hoffnung, dass sich dadurch etwas ändern könnte. Oder um zumindest die eigene Position klarzustellen.

Die Menschen leben in verschiedenen Welten

Doch den russischen Präsidenten erreichen dieser Tage auch Nachrichten mit ganz anderem Tenor. „Acht lange Jahre haben wir auf die Rettung vor unzähligen Angriffen, vor dem nicht enden wollenden Völkermord vonseiten des immer noch agierenden Kiewer Regimes, gewartet (…) Ich spreche Ihnen als unserem Oberbefehlshaber meine volle Unterstützung aus bei der Verteidigung der Interessen Russlands und unseres multiethnischen russischen Volkes, bei der Bekämpfung von Bedrohungen und der Wahrung des Friedens. Auf dass alle Aufgaben, die auf unsere tapfere Armee zukommen, bald zu einem guten Ende gebracht werden.“ Diesen Text veröffentlichte der russische Schach-Großmeister Sergej Karjakin kürzlich auf Instagram.

Doch Karjakin ist selbstverständlich nicht der Einzige. Auch russische Schriftsteller äußerten ihre Unterstützung für die „Sonderoperation“. „Wer will schon Opfer? Unsere Truppen etwa, die noch nicht einen friedlichen Zivilisten mit Absicht getötet haben? Oder diejenigen, die einen endlosen Krieg gegen die russische Sprache sowie einen Informationskrieg gegen das russische Selbstverständnis führen? Die Antwort ist eindeutig. Opfer will der Westen, der die Nationalsozia­listen in die Arme schließt.“ Das Schreiben unterzeichneten mehr als 100 Autoren.

Das sind nicht nur unterschiedliche Positionen. Die Menschen in Russland leben in zwei verschiedenen Welten. Gemeinsam haben sie zurzeit lediglich, dass sie gleichermaßen unter westlichen Sanktionen leiden. Doch auch das bringt sie einander nicht näher. Wie das geschehen soll, ist eine Frage für spätere Tage. Jetzt geht es vor allem darum, dass in der Ukraine kein Blut mehr vergossen wird.

Igor Beresin

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