Vergessene Särge am Ufer der Wolga

Im Wolgadorf Tschkalowskoje erfuhren nicht nur die Deutschen, die nach Sibirien und Kasachstan deportiert wurden, unsägliches Leid. Auch die bestatteten Toten, die sie zurückließen, finden bis heute keine Ruhe. Die MDZ war vor Ort.

Zahlreiche Verstorbene wurden in dieses Massengrab umgebettet – doch längst nicht alle. (Foto: Oleg Wins)

Am Hochufer der Bucht des Wolgograder Stausees befindet sich ein von Gräben durchzogenes Plateau. Das Auge braucht eine Weile, um sie zu erkennen, die Umrisse der Gräber. Dies ist der alte Friedhof des Dorfes Tschkalowskoje im Bezirk Rownoje im Saratower Gebiet. In den vergangenen 50 Jahren wurden in der Gegend mehrere Stellen zur Entsorgung verendeter Tiere genutzt, sodass überall in der Gegend weiße Knochen zu finden sind. Ob es menschliche oder tierische Knochen sind, man weiß es nicht. An der Oberfläche gibt es tiefe Furchen, wie nach einem Erdbeben. Jedes Jahr fallen Tausende von Tonnen Erde in den Fluss. Und mit ihnen auch die Särge mit den sterblichen Überresten derer, die hier seit der Gründung des Dorfes Laub bis zur Deportation der Deutschen 1941 bestattet wurden. Laub – so hieß Tschkalowskoje bis 1942.

Beim Abstieg zur Wolga kann man mehrere solcher Särge sehen, die in großer Höhe aus dem Boden ragen. Es gibt keine Möglichkeit, an sie heranzukommen, die Böschung ist höher als ein neunstöckiges Haus. Lokale Fischer erzählten, dass die Knochen später in die Wolga fallen.

Der Friedhof wurde 1959 verlegt

„Ich habe immer noch diese schrecklichen Bilder im Kopf: Unser Dorffriedhof ist völlig zerfurcht. Es stehen viele Leute mit Schaufeln herum, ein Bagger ist im Einsatz. Neben den Gruben stehen Särge, die auf eine Umbettung warten“, erinnert sich Galina Wlasowa, eine Anwohnerin. Ihre Eltern kamen 1948 in das Dorf, und Galina wurde im selben Jahr geboren. Jetzt ist sie im Ruhestand, aber früher arbeitete sie als Lehrerin für russische Sprache und Literatur an der örtlichen Schule.

Galina Wlasowa hat ein Notizbuch, in dem sie alle für die Geschichte wichtigen Ereignisse notiert hat, die in ihrem Heimatdorf passiert sind. Laut ihrem Tagebuch fand die Umsiedlung der Verstorbenen an den neuen Ort im Frühherbst des Jahres 1959 statt. Elf Jahre war sie zu diesem Zeitpunkt alt.

Übrigens kann man den ersten Siedlern kaum Nachlässigkeit bei der Wahl des Begräbnisplatzes vorwerfen. Früher waren es vom Friedhof bis zur Wolga drei Kilometer. Es ging durch Wald, vorbei an Gemüsegärten, eine Straße verlief hier.

Bodenerosion durch den Stausee

Seit 1958 begann ein starker Anstieg des Wasserspiegels durch die Aufstauung des großen rus­sischen Stroms. Die schnelle Zerstörung des Ufers und die Boden­erosion auf großen Flächen wurden zu einem offensichtlichen Problem. Dann beschlossen die örtlichen Verantwortlichen, die Gräber zu verlegen.

„Die Arbeit wurde von der Leitung der nach der Vertreibung der Deutschen gegründeten Sowchose organisiert. Jeder Einwohner musste seine Angehörigen ausgraben. Zum Beispiel lag hier unsere Großmutter und ein weiterer Verwandter. Wir haben sie ausgehoben, Großmutter wurde in einen neuen Sarg gelegt, da der alte zerbrochen war. Dann wurden sie auf dem Lastwagen zum neuen Friedhof gefahren, etwa drei Kilometer vom Ufer entfernt“, so Galina Wlasowa.

Nach Angaben der Frau wurde die Umbettung der deutschen Kolonisten durch den Staatsbetrieb durchgeführt. Die Gräber wurden mit einem Bagger ausgehoben, und die Einheimischen mussten die Überreste herausholen. Einige Särge wurden geöffnet und man konnte die Kleidung der Verstorbenen sehen. Angesichts der Tatsache, dass noch immer Särge in die Wolga fallen, waren längst nicht alle ausgehoben worden. Nach den Erinnerungen von Augenzeugen waren es nicht mehr als hundert Gräber.

In ein Massengrab umgebettet

Resultat der Umbettung war, dass die, die nach der Auflösung der Deutschen Wolgarepublik 1941 gestorben waren, auf dem neuen Friedhof bestattet wurden. Andere fanden ihre letzte Ruhe in einem Massengrab, das 100 Meter vom neuen Friedhof entfernt ausgehoben wurde. Es wurde zur Hälfte gefüllt. Der zweite Teil der Grube auf dem freien Feld ist noch offen. Und nicht nur Deutsche liegen darin, sondern auch die Angehörige anderer Nationalitäten, die von ihren Angehörigen zurückgelassen oder vergessen wurden.

Zum Beispiel konnten die Eltern von Galina Wlasowa wegen der Ausgrabungsarbeiten das Grab ihrer im Säuglingsalter verstorbenen Schwester auf dem alten Friedhof nicht finden. Die Dorfbewohnerin glaubt, dass die Überreste des Kindes in einem Massengrab abseits des Friedhofs begraben sein könnten.

Galina Wlasowa erinnert sich an die Umbettung der Toten 1959. (Foto: Oleg Wins)

„Wir kamen immer hierher, als die Grube ausgehoben wurde, und rannten mit anderen Kindern auf dem Boden herum. Das war noch, bevor die toten Menschen hierhergebracht wurden. Davor hatte ich damals große Angst. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Abend starke Kopfschmerzen hatte. Meine Freunde sagten, dass die Toten sich dafür rächen wollten, dass sie gestört wurden“, erinnert sich die Rentnerin.

Vor vielen Jahren war auf dem Massengrab ein eisernes Denkmal mit der Aufschrift „Unbekanntes Grab“ aufgestellt worden. Jetzt ist alles verwittert und wird bald zu Staub zerfallen. Offenbar soll es einen neuen Gedenkstein mit folgender Inschrift geben: „Hier ruhen die ersten Siedler, die aus europäischen Ländern kamen, um dieses Land für künftige Generationen zu besiedeln, um es reich und wohlhabend zu machen“.

Was ist von den Deutschen geblieben?

Was ist in Tschkalowskoje von der deutschen Vergangenheit geblieben? Heute leben im Dorf etwa 300 Menschen, vor dem Krieg hatte die Siedlung noch rund 2500 Einwohner gehabt. Mehr als die Hälfte der Häuser stammen aus der „deutschen Zeit“. Natürlich wurden sie renoviert und umgebaut. Aber die Häuser aus Holzbalken fallen sofort auf. Anfang der 1960er Jahre wurde die Stadt von einem schweren Sturm heimgesucht, woraufhin die Verwaltung die Schindeln und das Stroh auf den Dächern durch Schiefer ersetzte. Viele Häuser haben neue Fundamente und die Wände sind isoliert. Es gibt auch einige moderne Gebäude im Dorf, der Bau der Grundschule, die vor einigen Jahren aufgelöst wurde, wird als Wohnraum genutzt.

Die Fläche der Siedlung ist in 30 Jahren um das Dreifache geschrumpft. Es gibt keine Schule, keine Krankenstation, keine Bank, keine Bibliothek und nur ein einziges Geschäft. Aber es gibt ein Kulturzentrum, das in einem ehemaligen lutherischen Schulhaus aus dem Jahr 1899 untergebracht ist.
Das Mauerwerk im „bayerischen“ Stil ist schon lange sanierungsbedürftig. Kinder und Erwachsene nehmen dort an kreativen Workshops teil. Der inzwischen geschlossene zweite Laden befindet sich ebenfalls in einem alten Gebäude, dem ehemaligen Pfarrhaus. Es ist ein kleines einstöckiges Steinhaus mit einem großen Keller.

Der älteste Deutsche

In einem alten deutschen Holzhaus in der Nähe des Kulturzen­trums fand der Autor den ältesten Einwohner von Tschkalowskoje, den 1937 geborenen Russlanddeutschen Wladimir Schäfer. Er wohnt seit Oktober 1941 im Dorf. Wie kam es, dass eine deutsche Familie – eine Mutter mit drei kleinen Kindern – zu den allerersten Umsiedlern in dieser Gegend gehörte?
Die Schäfers hatten in Grusino im Bezirk Tschudowo im Gebiet Leningrad gelebt. Der Ort wurde später dem Gebiet Nowgorod zugeteilt. Das Familienoberhaupt war Repressionen ausgesetzt und wurde 1937 erschossen, aber in den späten 1980er Jahren rehabilitiert.

Als sich die Frontlinie im August und September 1941 dem alten russischen Dorf näherte, lebte die Mutter mit drei Kindern in einem im Wald angelegten Unterstand. So wurde sie vor Artilleriebeschuss gerettet. Ende September erhielt sie von der örtlichen Abteilung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten die Bescheinigung zur Evakuierung. Die Flüchtlinge schafften es, in einen Zug zu steigen, der in den Osten des Landes fuhr. Am Evakuierungspunkt in Saratow wurden sie in das Dorf Laub verwiesen, das zu diesem Zeitpunkt völlig verlassen war.

„Wir waren unter den ersten, die ankamen. Es gab keine Zivilisten, nur ein paar Frauen deutscher Nationalität, die mit Russen verheiratet waren. Wir haben eines der leeren Häuser bezogen. Alle Utensilien waren an ihrem Platz, es gab Vieh im Hof. Den ersten Winter überlebten wir normal, das Militär schlachtete eine Kuh, die uns bis zum Frühjahr ernähren konnte. Dann kamen andere Evakuierte hinzu. Im nächsten Sommer wurde das Militär in die Gegend von Stalingrad verlegt. Während des Krieges gab es im Dorf keine Schule, ich ging erst mit 11 Jahren in die erste Klasse“, erinnert sich Wladimir Schäfer.

Ihm zufolge begannen die Deutschen in den frühen 1970er Jahren, in ihr Heimatdorf zurückzukehren. Bis 1990 machten sie etwa ein Drittel aller Einwohner von Tschkalowskoje aus.

Dann begannen sie nach Deutschland auszuwandern. Nun blieben nur noch wenige deutsche Familien im Dorf. Manchmal kommen Auswanderer nach Tschkalowskoje, um die Gräber ihrer Verwandten zu besuchen.

Oleg Wins

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