Nachdenklich auf seinem Schimmel sitzend, betrachtet ein geharnischter Ritter einen Stein mit Inschrift. Ein Rabe kreist über der abendlichen Szenerie, Knochen von Pferd und Mensch sind am Boden zu sehen. „Der Recke am Scheideweg“ heißt das Gemälde von Wiktor Wasnezow, das zwischen 1878 und 1881 entstanden ist. Es ist das erste Exponat, das der Besucher der Ausstellung „Das russische Märchen. Von Wasnezow bis heute“ im Westflügel der Neuen Tretjakow-Galerie zu Gesicht bekommt.
So wie der Ritter steht auch der Museumsgast hier am Scheideweg, denn die Ausstellung gibt keine feste Richtung vor. Soll es zuerst in die Welt der Wassernixen und des goldenen Fischs gehen? In das Reich der Unterwelt, wo der feuerspeiende Drache Smej Gorynytsch mit seinen vielen Köpfen wartet? Oder lieber in die endlosen Wälder Russlands, wo der Geist Leschij haust? Die Besucher – hier sind Kinder wie Erwachsene gleichermaßen angesprochen – sollen sich ihr eigenes Märchen schaffen, indem sie sich als Wanderer zwischen den Welten frei durch die Ausstellung bewegen.
Egal welchen Weg man einschlagen mag, ein ständiger Begleiter bleibt der Maler Wiktor Wasnezow. Er gilt als einer der bedeutendsten russischen Märchenillustratoren und schuf im späten 19. Jahrhundert eine breite Werkpalette auf diesem Gebiet. Zu Lebzeiten wurde dieser Aspekt seines Schaffens eher als Nebensache angesehen, heute ist Wasnezow gerade hierfür berühmt. Zu sehen sind unter anderem seine drei Bilder, „Die drei Prinzessinnen der Unterwelt“, „Iwan Zarewitsch auf dem grauen Wolf“ und „Die Froschkönigin“, die erstmals gemeinsam gezeigt werden.
Repin trifft Computeranimation
Diese klassischen Kunstwerke werden in einer szenischen Märchenlandschaft unterschiedlichen Formen zeitgenössischer Kunst gegenübergestellt. Bisweilen verschmelzen die Epochen, wenn etwa in der Unterwasserwelt Ilja Repins 1876 entstandenes Gemälde „Sadko im Reich des Meereskönigs“ mittels Computergrafik zur Installation wird: Sadko, der Abenteurer, Händler und Musiker ist zu Gast beim König der Meere und soll sich unter 900 Meerjungfrauen eine Braut aussuchen. Ein Fischschwarm huscht durch das illuminierte Bild, einfallendes Sonnenlicht schimmert in sanften Strahlen und Luftblasen steigen empor.
Die Räume sind in Weiß gehalten, hier in der Unterwasserwelt finden sich meterhohe modellierte Wellen, an der Decke hängt der goldene Fisch, eine russische Märchengestalt, die Wünsche erfüllt, etwa in Alexander Puschkins „Märchen vom Fischer und dem Fischlein“. Auf Tafeln erfährt der Besucher – in russischer und englischer Sprache – kurz und knapp Hintergründe zu den häufigen Märchengestalten. Beim Fisch ist etwa zu lesen, dass er auch in der europäischen und chinesischen Erzähltradition zuhause ist. Und als Fun Fact, dass Fische in deutschen Märchen zumeist Plattfische seien. In der Tat: Im Grimm-Märchen „Vom Fischer und seiner Frau“ ist es ein Steinbutt, der die drei Wünsche erfüllt.
Weiß und winterlich zeigt sich auch der Märchenwald, dessen größter Anziehungspunkt ist ohne Zweifel die Skulptur „Michal Michalitsch“, die eigens für die Ausstellung angefertigt wurde. Ein überlebensgroßer, schlafender Braunbär, der zwar nicht im Schlaf gestört werden mag, sich aber eine liebevolle Umarmung für ein Foto gerne gefallen lässt.
Entsprechend ist der Andrang. Gegenüber, auf Wasnezows Gemälde, ist der Märchenhelden Iwan Zarewitsch zu sehen, der Zarensohn, der mit Jelena der Schönen auf dem grauen Wolf reitet.
Künstliche Intelligenz als Malerin
Im Reich der Unterwelt begegnet, abermals auf einem Gemälde von Wasnezow, Baba Jaga, die ambivalente Frauengestalt, die einmal als Wegweiserin, einmal als heimtückische Mörderin und Menschenfresserin dargestellt wird. Sie ist hager, alt und hässlich und lebt in einem Haus auf Hühnerbeinen. Doch zu sehen ist nicht das Originalbild, sondern eine Installation des Medienkünstlers Vadim Epstein. Baba Jaga bewegt sich vor einem Hintergrund, der von einer Künstlichen Intelligenz ständig neu gestaltet wird.
In einer Animation von Alexej Sacharow wird der feuerspeiende Drache Smej Gorynytsch, ebenfalls einem Wasnezow-Werk entnommen, zur Videospielfigur im Endkampf gegen den Helden Dobrynja Nikititsch. Die Künstlerin Olga Krojter wiederum ist als Dornröschen im gläsernen Sarg zu sehen – in Form eines Performance-Videos, das die Betrachter mit eingefangen hat.
Die Ausstellung will das Märchen als Teil der russischen Kultur erlebbar machen und Begeisterung dafür wecken. Der Zugang ist vielschichtig und breit angelegt. Zwischen den klassischen und zeitgenössischen Kunstwerken finden sich Sequenzen sowjetischer Märchenfilme oder Druckgrafiken aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So ist für die ganze Familie etwas dabei ist, nicht nur, aber besonders für die Kleinen.
„Das russische Märchen. Von Wasnezow bis heute“ läuft noch bis zum 10. Mai.
Jiří Hönes