Umgedeutet: Die Oktoberrevolution in aktuellen russischen Lehrbüchern

Nicht mehr sozialistisch, sondern russisch soll sie sein. Was russische Schüler heute über die Oktoberrevolution lernen.

 

Lehrbücher

Vielfalt zugelassen. Gleich drei Lehrbücher behandeln die Oktoberrevolution. Foto: Daniel Säwert

Im Jahr 2013 regte der russische Präsident Wladimir Putin die Schaffung einheitlicher Lehrbücher für die Schule an. Wichtig sei es, dass die Bücher ohne „innere Gegensätze und doppeldeutige Interpretationen“ sowie „ideologischen Abfall“ geschrieben werden, sagte er damals während einer Sitzung des Rates für Interethnische Beziehungen.

Die Oktoberrevolution gehört zu den „schwierigen Fragen“ der russischen Geschichte

Eine Expertenkommission machte sich daraufhin an die Arbeit, einen neuen historisch-kulturellen Standard auszuarbeiten. Dabei wurde ein Katalog von 20 „schwierigen Fragen“ zur Geschichte erstellt. Dazu gehörte auch die Oktoberrevolution. Autoren sollten bei den Lehrtexten einen besonderen Wert auf verschiedene Perspektiven legen. Der Leiter des Instituts für allgemeine Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Alexander Tschubarjan, erklärte in einem Interview mit der Zeitung Kommersant, dass die Bewertung der Ereignisse von 1917 Anlass zum Umdenken über die gesamte sowjetische Zeit sei.

„Geschichte kann ein Faktor für Konsolidierung sein, aber auch für Spaltung. Bis heute war die Gesellschaft sehr gespalten in der Bewertung der Revolution“, so der Historiker. Konsens zu schaffen lautete also die Aufgabe der Expertenkommission. Und dieser sollte nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftlich sein.

Die Revolution dauert jetzt vier Jahre

Ein weiteres Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sergej Schurawljow, erklärte, dass die Oktoberrevolution im neuen Standard weder „groß“ noch „sozialistisch“ sein sollte. Allerdings, so Schurawljow weiter, wird die Oktoberrevolution nicht verschwinden.  In der Bevölkerung gebe es den Wunsch, sie als Erinnerungsort weiterhin zu erhalten.

Die Expertenkommission löste viele Streitfragen, indem sie die Oktoberrevolution in einen größeren Kontext stellte, den sie „Große Russische Revolution“ nannte. Zu dieser „Großen Russischen Revolution“ gehören auch die Februarrevolution und der Bürgerkrieg als Fortsetzung der Oktoberrevolution. Ein Zeitraum von insgesamt vier Jahren. Die Bezeichnung verstehen die Historiker auch explizit als Reminiszenz an die Französische Revolution. Diese wird im Russischen auch als „groß“ bezeichnet wird. Die Einbeziehung des Bürgerkrieges hat laut Alexander Tschubarjan auch einen bestimmten Zweck. Sie soll den Schülern das gesamte Spektrum des Lebens zu zeigen, also auch die tragischen Seiten.

Was sagen Kritiker?

Ein prominenter Kritiker des neuen Geschichtskonzeptes ist der Moskauer Professor Boris Rutschkin. In einem Aufsatz schreibt er, dass mit dieser „Reform“ die Oktober­revolution als einzigartiges Ereignis aus dem Lernprozess und damit aus dem Gedächtnis der Jugend verdrängt werde. Eines muss er dem neuen Konzept jedoch zugestehen: Es sei historisch objektiv und dem früheren scharfen Antisowjetismus folge nun eine ausgewogene Sichtweise.

Der Wunsch nach Objektivität, Konsens und Mitgestaltung führte dazu, dass zum Schuljahr 2016 statt eines einheitlichen, gleich drei Lehrbücher zur russischen Geschichte erschienen. Von den Lehrern wurden die neuen Bücher gemischt aufgenommen. Viele zeigen sich erfreut, dass nun den Schülern neue wissenschaftliche Erkenntnisse zugänglich gemacht werden. Andere wiederum beklagen, dass Alter und psychologische Besonderheiten der Kinder nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Was lernen Schüler?

„Die Bolschewiki reißen die Macht an sich“. So heißt ein Kapitel eines Lehrbuchs. / Foto: Daniel Säwert

Wirft man einen Blick in die drei Geschichtsbücher für die zehnte Klasse, in denen die Oktoberrevolution behandelt wird, so entdeckt man, dass sie als „Ereignis“ bezeichnet wird, das zur Errichtung der sowjetischen Macht führt. Lediglich die Autoren Oleg Wolobujew, Sergej Karpatschew und Pjotr Romanow zeigen in ihrem Buch Emotionen und betiteln die Oktoberrevolution mit „Die Bolschewiki reißen die Macht an sich“. Alle Lehrwerke bemühen sich zu unterstreichen, dass die Oktoberrevolution ein relativ ruhiges Ereignis war, bei dem die Bolschewiki kaum Widerstand ertragen mussten.

Dem heutigen Zeitgeist entsprechend, nimmt die Russisch-Orthodoxe Kirche prominenten Raum in den Kapiteln zur Oktoberrevolution ein. Diese Einordnung wirft mehr Fragen auf, als sie Antworten liefert. Anscheinend ist es den Autoren wichtig zu zeigen, dass zwischen den Revolutionen des Jahres 1917 das religiöse Leben erstarkte und die Russisch-Ortho­doxe Kirche nach 200 Jahren wieder einen Patriarchen erhielt.

Mitdenken ist erwünscht

Die Lehrbücher lassen Vielfalt zu. Sie sind so konzipiert, dass russische Schüler nicht nur passiv Wissen aufnehmen. Sie sollen angeregt werden, eigenständig zu denken und Ereignisse zu bewerten. In dem Lehrbuch von Wolobujew, Karpatschew und Romanow sollen Schüler die Diskussion über die unterschiedliche Bezeichnung der Oktoberrevolution reflektieren und schließlich erklären, welche sie selbst für richtig halten.

Bei Sergej Schurawljow und Andrej Sokolow sollen die Schüler selbstständig erklären, wie es zur Machtübernahme durch die Bolschewiki kam. Und Michail Gorinow und Alexandra Tokarewa lassen die Jugendlichen darüber diskutieren, ob die Oktoberrevolution nun das größte Ereignis der Weltgeschichte sei oder nicht.

Das Ergebnis

Der emotionale Aufschrei war groß in einigen Teilen der russischen Bevölkerung, als vor einigen Jahren bekannt wurde, dass die Oktoberrevolution im Unterricht mehr und mehr an Bedeutung verliert. Auch wenn sie gewiss ihren besonderen Status eingebüßt hat, so wird ihr doch auch heute noch ausreichend Platz in der an Ereignissen reichen Geschichte Russlands des 20. Jahrhundert eingeräumt. So unterschiedlich die Bewertungen über die Oktoberrevolution in den Schulbüchern sind, so vielfältig fallen die Feierlichkeiten zu 100 Jahre Revolution dieses Jahr an den Schulen im ganzen Land aus – vom Gedenken bis zum Verbot des Jubiläums.

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