Homosexuelle „liquidieren“? Fast jeder Fünfte ist dafür

Eine Umfrage des Lewada-Zentrums hat ergeben, dass ein Großteil der russischen Bevölkerung Schwulen und Lesben ablehnend bis feindselig gegenübersteht, wenn auch etwas weniger als in früheren Jahren. Gegenüber HIV-Infizierten ist ein starker Meinungsumschwung zu verzeichnen.

Die Umfrage des Lewada-Zentrums hat für ein breites Echo gesorgt. (Foto: Screenshot)

Eine Meldung dieser Tage: „Die Russen sind toleranter gegenüber Homosexuellen, Drogenabhängigen und Prostituierten geworden“, berichtete die „Deutsche Welle“. In anderen Medien las sich das ganz ähnlich. Die Nachricht nimmt Bezug auf eine aktuelle Umfrage des Lewada-Zentrums: Sie ergründet Einstellungen gegenüber Menschen, die „anders“ sind, die Berührungsängste auslösen, deren Verhalten den sozialen Normen widerspricht oder auch strafrechtlich verfolgt wird.

Die Ergebnisse sind keine leichte Kost. Mehr Akzeptanz etwa gegenüber LGBT heißt in diesem Falle nicht mehr Gleichbehandlung, sondern drückt sich in veränderten Relationen von Denkmustern aus, die allesamt negativ ausfallen. Demnach sind 50 Prozent der Russen (2015: 58 %) der Auffassung, Schwule und Lesben sollten „von der Gesellschaft isoliert“ oder aber „liquidiert“ werden, Letzteres meint mit 18 Prozent fast jeder Fünfte. Weitere neun Prozent (6 %) finden, sexuellen Minderheiten müsse „geholfen“ werden, während 32 Prozent (24 %) sie „sich selbst überlassen“ würden – das ist laut Umfrage noch das Beste, was ihnen passieren kann.

Antwortvarianten stammen noch aus Sowjetzeiten

Allein die Sprache klingt wie aus einer anderen Zeit und hat auch Fragen an die Meinungsforscher aufgeworfen. Ob es eigentlich normal sei, dass Teilnehmer einer Umfrage sich dafür aussprechen könnten, bestimmte Gruppen zu beseitigen, wunderte sich der russische Dienst der BBC. Lew Gudkow, Direktor des Lewada-Zentrums, erklärte darauf­hin, die Umfrage werde schon seit 1989 durchgeführt. Damals, noch zu Sowjet­zeiten, hätten die Befragten ihre eigenen Antwortvarianten nennen können.

Mit „Schwule und Lesben liquidieren“ (was seinerzeit 35 Prozent befürworteten) sei offensichtlich gemeint gewesen, das „Problem“ irgendwie aus der Welt zu schaffen, nicht die Menschen. Trotz aller moralischen Vorbehalte habe man die Optionen seitdem so gelassen, wie sie waren, um die Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu ermöglichen. Und so kann auch weiterhin fürs „Liquidieren“ plädiert werden. Was die Befragten darunter verstehen, ist offenbar ihnen überlassen. Gudkow sieht darin den Ausdruck einer „äußerst aggressiven und repressiven Einstellung“, von der man wissen müsse, dass es gibt. „Ein gewisser Teil denkt so.“

Ablehnung von HIV-Infizierten stark gesunken

Die Umfrage förderte auch eine bemerkenswert veränderte Einstellung gegenüber Obdachlosen und HIV-Infizierten zu Tage, weg von gesellschaftlicher Ächtung , hin zu mehr Anteilnahme. Waren es 2015 noch sieben Prozent, die sie „liquidieren“ wollten, so sind es heute zwei Prozent. Von der Gesellschaft isolieren wollen HIV-Infizierte mit 14 Prozent fast nur noch halb so viele wie vor fünf Jahren (26 %), bei Obdachlosen sank der Wert sogar von 25 auf sechs Prozent. Dafür steht Hilfe mittlerweile hoch im Kurs. 79 Prozent sind dafür, HIV-Infizierten zu helfen (2015: 58 %), bei Obdachlosen sind es sogar 88 Prozent (53 %).

HIV und Aids haben in den letzten Jahren zunehmend mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. So greift unter anderem die populäre TV-Serie „Ruft DiCaprio an!“, von den russischen Filmkritikern zur Serie des Jahres 2018 gewählt, das Thema auf. Zuletzt stieß auch eine YouTube-Reportage des Journalisten Jurij Dud auf eine riesige Resonanz. In Russland sind mehr als eine Million Menschen HIV-positiv. Die Zahl der Neuansteckungen ist die höchste in Europa.

Tino Künzel

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