Fluch der Unkenntnis: Wie ein Film über HIV in Russland für Furore sorgt

Während alle Welt vom Coronavirus spricht, hat ein anderes Virus Russland fest im Griff: HIV. Die Statistik ist erschütternd, die Unwissenheit auch. Jetzt schafft ein YouTube-Film, was bisher keiner staatlichen Kampagne gelang: das Problem ins Bewusstsein zu rücken.

Russland hält den Europarekord bei HIV-Neuinfektionen. (Foto: Pixabay)

Im Sommer 2018 hätte eine Gruppe von Kindern mit der Immunschwäche­krankheit HIV drei Tage lang in einem Feriendorf bei Nischnij Nowgorod Urlaub machen sollen. Doch dazu kam es nicht. Die Mitarbeiter weigerten sich, mit den Kindern zu arbeiten  – aus Angst um ihre eigenen. Die Geschichte wurde publik und sorgte für einen handfesten Skandal. Auch der Journalist und Videoblogger Jurij Dud erzählt sie am Anfang des von ihm gedrehten Films „HIV in Russland“, der Mitte Februar auf seinem YouTube-Kanal erschien und seitdem bereits fast 17 Millionen Mal angeklickt wurde. HIV-Infizierte seien nicht deshalb Diskriminierung ausgesetzt, würden gemieden oder mit Ekel behandelt, weil die Menschen „Mülleimer anstelle der Herzen“ hätten, sondern aus blanker Unwissenheit, so Dud. Gegen die wolle man zumindest ein klein wenig ankämpfen.

Maximale Aufmerksamkeit für das Problem zu erzeugen, ist bitter nötig. Denn die Zahlen sind dramatisch: In Russland tragen nach offiziellen Statistiken etwa eine Million Menschen das HIV-Virus in sich. Zum Vergleich: In Deutschland waren es laut Robert-Koch-Institut im Jahr 2018 – neuere Angaben waren bei Redaktionsschluss noch nicht verfügbar – 87.900. Das entspricht fast der Größenordnung allein der Neuinfizierten in Russland im selben Jahr. Sie ist leicht rückläufig, aber immer noch die mit Abstand höchste in Europa, auch in Relation zur Bevölkerung. Besonders traurig: Russlandweit starben 2018 rund 37.000  Menschen an Aids, also ungefähr 100 am Tag. In Deutschland belief sich die Zahl auf einige hundert im gesamten Jahr.

Jurij Dud ist einer der bekanntesten Videoblogger Russlands. Einen Namen gemacht hat er sich zunächst mit YouTube-Interviews, inzwischen dreht er auch Reportagen. Der Film über HIV in Russland gehört, gemessen an der Resonanz, zu seinen erfolgreichsten Arbeiten.

Duds Film zeigt vor allem Menschen, die HIV-positiv sind und deren Alltag sich nicht von Gesunden unterscheidet. Sie stehen mitten im Leben, fahren Wasserski, machen Musik. Vor der Kamera erzählen sie, wie sie sich angesteckt haben – durch Drogen oder ungeschützten Geschlechtsverkehr – und wie ihr Umfeld auf die Nachricht reagiert hat. Alle betonen, wie wichtig Aufklärung ist. „Und zwar von der Schule an“, sagt Katja, deren Aids-Erkrankung weit fortgeschritten ist. Sie stirbt 17 Tage nach der Aufzeichnung des Interviews.

Es gibt auch simple praktische Anleitung: Wie macht man eigentlich einen HIV-Selbsttest? Und wohin wendet man sich, wenn er positiv ausfällt? Das zeigt Wirkung: Laut der Internetzeitung „Meduza“ meldeten staatliche Aids-Zentren seit der Veröffentlichung des Films verschiedentlich eine Verdopplung oder Verdreifachung der Nachfrage, sich testen zu lassen. In den Apotheken vervielfachten sich die Verkäufe von Heimtests.

Doch es gibt noch viel zu tun. Erst neulich wurde ein Patient mit HIV in einer Poliklinik in der Region Perm von der Ärztin, bei der er wegen Medikamenten vorstellig wurde, angeherrscht, er möge bloß Abstand halten. Mit den Worten „Sie stecken uns jetzt alle hier an“ stürzte sie aus dem Zimmer. 

Tino Künzel

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