Kriegsgefangene und ihre Familien: Wieder unter einem Dach

Die Millionenstadt Perm und die dazugehörige Region liegen am östlichen Ende von Europa. Von hier, aus dem Vorland des Urals, wurden tausende junge Männer vom großen Krieg mitten ins Herz von Europa geschleudert. Manche von kamen in Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet von Niedersachen. Was das für Menschen waren, zeichnet jetzt eine bewegende deutsch-russische Ausstellung nach – durch das Prisma der Familien, aus denen sie herausgerissen wurden.

Familienzusammenführung in Fotos von einst und jetzt: In der Ausstellung ist jedem Kriegsgefangenen eine solche Installation gewidmet, die eine Brücke schlägt zwischen Vergangenheit und Gegenwart. © Tino Künzel

Auch 74 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind längst nicht alle Geschichten seiner Teilnehmer erzählt. In manchen Familien geht das mit dem Erzählen sogar gerade erst los. Ehemänner, Väter, Söhne gerieten in Kriegsgefangenschaft, offiziell galten sie als vermisst. Von rund fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen kamen 3,3 Millionen ums Leben, ein Großteil gleich in den ersten Monaten. Denen, die überlebten, haftete zu Sowjetzeiten ein Stigma an. Sie hatten, so hieß es, nichts für den Sieg getan, sondern sich dem Feind ergeben. Durfte man ihnen denn überhaupt trauen?

Also herrschte auch in den Familien ein lautes Schweigen darüber. Man wusste nichts Genaues und fragte im Zweifelsfall vielleicht auch besser nicht nach. An den Tabus rüttelt nun die Ausstellung „Rückkehr nach Hause“ in Perm, einer Regionalhauptstadt über tausend Kilometer östlich von Moskau. Es sei an der Zeit, das Thema in die Öffentlichkeit zu bringen und damit gegen Vorurteile anzugehen, Kriegsgefangene seien Verräter gewesen, sagt Anna Otmachowa. Sie ist in Perm Koordinatorin der Bewegung „Unsterbliches Regiment“, die Menschen animiert, sich mit der eigenen Familiengeschichte während des Krieges zu beschäftigen und den Beitrag zu würdigen, den die jeweiligen Vorfahren an der Front oder im Hinterland zur Befreiung vom Hitlerfaschismus geleistet haben.

In der Ausstellung sind auch Karteikarten von Kriegsgefangenen zu sehen. Diese hier wurde im sogenannten Stalag XI C (311) ausgestellt, dem Kriegsgefangenen-Stammlager Bergen-Belsen nördlich von Hannover. © Tino Künzel

Die Ausstellung „Rückkehr nach Hause“ in der Staatlichen Kunstgalerie von Perm ist eine deutsch-russische Koproduktion und der öffentliche Auftakt des Projekts „Erinnerungsbrücke“, das Schicksalen von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern aus dem Molotow-Gebiet (die Region Perm war damals nach dem sowjetischen Außenminister Wjatscheslaw Molotow benannt) auf dem Gebiet des heutien Landes Niedersachsen nachgeht. Niedersachsen und die Region Perm pflegen schon seit 1993 partnerschaftliche Beziehungen. Das Projekt „Erinnerungsbrücke“ wird vom Auswärtigen Amt unterstützt und auf deutscher Seite vom Goethe-Institut mitgetragen.

Die Initialzündung dafür lieferte der Historiker Karl-Heinz Ziessow, der stellvertretender Leiter des Museumsdorfes in Cloppenburg war, bevor er in Rente ging. Ziessow ist bei seinen Recherchen im Archiv des Landkreises Cloppenburg auf 2000 Karteikarten von sogenannten Ostarbeitern gestoßen, die während des Krieges in der Landwirtschaft eingesetzt worden waren. Dazu hat er auch Karteikarten aus der früheren Wehrmachtsauskunftsstelle ausgewertet, die heute im Archiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk bei Moskau lagern und inzwischen digitalisiert sind. Das brachte ihn auf die Spur von Kriegsgefangenen aus der Region Perm.

500 Namen reichte Ziessow an seine langjährigen Partner in Perm weiter. Anna Otmachowa begab sich auf die Suche nach den jeweiligen Familien, was sich schon deshalb schwierig gestaltete, weil ein erheblicher Teil der Dörfer, aus denen die jungen Männer einst gen Westen aufbrachen, um ihre Heimat zu verteidigen, nicht mehr existiert. Otmachowa schaltete Anzeigen in Lokalzeitungen, um nach so vielen Jahrzehnten Angehörige ausfindig zu machen – und bekam Rückmeldungen.

Anna Ochmatowa stellt vor Ort den Kontakt zu den Nachfahren der Kriegsgefangenen her und bringt familiären Hintergründe in Erfahrung. © Tino Künzel

Bisher hat die Aktivistin zusammen mit dem Fotografen Walerij Sarownjannych die Nachfahren von etwa 30 Soldaten besucht und ist dafür in den vergangenen anderthalb Jahren Hunderte von Kilometern kreuz und quer durch die Region Perm gefahren. Sie hat sich erzählen lassen, wie es den Menschen seit dem Krieg, der eine Lücke in die Familie gerissen hat (von wenigen Ausnahmen abgesehen, wenn Überlebende heimkehrten), ergangen ist. Manche der in Kriegsgefangenschaft Umgekommenen hatten bereits Kinder, diese wiederum sind heute im Rentenalter und haben ihrerseits Kinder und Enkel. All diese Geschichten sowie Familienfotos von damals und heute sind in das Projekt „Erinnerungsbrücke“ eingeflossen. Auf der dazugehörigen Webseite Mostpamyati.ru sind bisher 27 Schicksale detailliert beschrieben und illustriert. Für die Ausstellung „Rückkehr nach Hause“ wurden zwölf davon ausgewählt.

Die Ausstellung ist noch bis 29. Juni in Perm zu sehen. Danach wird sie durch die Region touren – zu den Orten, aus denen die betreffenden Familien stammen. Es ist der gemeinsame Wunsch der Organisatoren, dass die Ausstellung später auch nach Deutschland kommt.

Tino Künzel

 

Heike Uhlig, Leiterin des Goethe-Instituts Moskau

Ich bin sehr froh, dass das Goethe-Institut das Projekt „Erinnerungsbrücke“ mit der Ausstellung „Rückkehr nach Hause“ unterstützen konnte. Damit können wir einen Beitrag leisten, die Schrecken des Krieges aufzuarbeiten, indem wir uns der Verantwortung Deutschlands stellen und hoffentlich eine Grundlage schaffen für eine friedvolle Zukunft, in der sich diese Schrecken niemals wiederholen. Das Projekt lässt die Schicksale hinter den abstrakten Zahlen von Millionen Kriegsgefangenen, die gestorben sind, lebendig werden. Bei der Ausstellungseröffnung in Perm haben ganz viele Besucher auch aus der Kriegsgeschichte ihrer eigenen Familie erzählt. Was ich sehr berührend fand: Einige Personen, deren Angehörige ebenfalls in Kriegsgefangenenlagern waren, sind auf uns und auf die Kollegen aus Niedersachsen mit Dokumenten zugekommen und haben gefragt, wie sie da weiter nachforschen können. Denen konnten wir einige Hinweise geben, wie man dabei am besten vorgeht.

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