
Anna Naljotowa hat ihr gesamtes Leben in Sidorowskoje verbracht. Ein kurzes Leben, 29 Jahre lang. Als sie 1928 starb, fand die Trauerfeier in der gerade erst eingeweihten Schutz- und Fürbitte-Kirche statt, einem imposanten Backsteinbau. Man hatte Platz für die Gläubigen gebraucht, mehr Platz, als die alte Nikolai-Kirche direkt gegenüber bieten konnte. Und so wurde noch vor der Revolution mit der Errichtung eines zweiten Gotteshauses begonnen. Viele Einwohner sollen damals mit angepackt haben. Vielleicht war auch Anna eine von ihnen.
Doch als die Kirche endlich fertig war, hatte das Land bereits andere Götter und eine neue Religion. Die Gottesdienste wurden alsbald verboten, die Gottesdiener verfolgt. Und weil auch die Sowjetmacht Platz für ihre Zwecke brauchte, wurde die Kirche nicht einfach nur geschlossen, sondern zur Lagerhalle umfunktioniert. Heute macht sie selbst als Ruine – mit verrammelten Eingängen und zerstörtem Inneren – noch Eindruck. Mit dem Geld einer Mäzenatin konnte vor Jahren die Kuppel wiedergestellt werden. Zu mehr hat es bisher nicht gereicht.
Dorffest vor Kirchenruine
Immerhin ist das historische Erbe in Sidorowskojes Ortsmitte zumindest auf diese nicht immer ansehnliche Weise erhalten geblieben. Teils verfallen und zugewuchert, wie auch das Herrenhaus vis-à-vis der beiden Kirchen. Von den 564 Einwohnern – so viele waren es laut Webseite der Gemeindeverwaltung zum 1. Januar 2018 – haben viele dort früher getanzt oder Filme geschaut. Denn die Sowjetzeit machte einen Klub daraus. Im ehemaligen Vorratskeller traten auch die „Semljaki“ auf, eine Dorfband, entstanden noch in den 1960ern Jahren und seitdem mehrfach verjüngt.
Heute haben die Lokalhelden jedes Jahr am 5. August ein umjubeltes Heimspiel. Beim Dorffest wird dann ein Truck vor der Schutz- und Fürbitte-Kirche geparkt und die Ladefläche des Anhängers zur Bühne. Sogar aus der weiteren Umgebung strömen die Menschen an diesem Tag auf die Festwiese. Fast so wie in Zarenzeiten, wenn hier Jahrmärkte abgehalten wurden.
Ferien bei Oma statt Ferienlager
Vom langen Atem der Geschichte ahnte die Deutsch- und Englischlehrerin Jelena Wakulenko nichts, als sie noch regelmäßig in Sidorowskoje war, nämlich für sämtliche Ferien ihrer Schulzeit in den 1990er Jahren. Die Sommer und Winter bei Oma auf dem Lande, zwischen Hügeln, Wäldchen und einer Bucht, die von der Schatscha gebildet wird, einem Nebenfluss der Wolga, zählen zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen. Sie verhießen Spiel, Spaß und Unbeschwertheit. Man durfte lange aufbleiben und lange schlafen, ernährte sich davon, was der Garten und Omas kleine Rente hergaben, ging je nach Jahreszeit baden oder rodeln und half im Haushalt mit. Beim Baden im Fluss wurde auch gleich das Geschirr an der frischen Luft gespült – Oma hatte keine Wasserleitung im Haus. Als Jelenas Eltern sie einmal mit den besten Absichten in ein Ferienlager schickten, litt sie fürchterlich und flehte inständig: Holt mich hier raus und bringt mich zurück aufs Dorf.
Zur Wolga-Fähre sind es von Sidorowskoje vier Kilometer, zur nächsten Stadt acht und bis nach Moskau 300. Das sorgt für eine beruhigende Distanz, ohne dass man gleich hinterm Mond lebte. Viele andere russische Dörfer haben mit Landflucht zu kämpfen, zurück bleiben oft nur Ältere und nach ihnen Geistersiedlungen. Allein in der Region Kostroma, zu der Sidorowskoje gehört, sind von dreieinhalbtausend Dörfern 44 Prozent unbewohnt. Mehr als 100 Einwohner haben keine 300. Vor diesem Hintergrund wirkt Sidorowskoje durchaus intakt und vital. Es gibt eine Schule und einen Kindergarten, zwei Lebensmittelläden, ein Kulturhaus, Arbeitsplätze im Ort selbst oder in unmittelbarer Nähe.
Vaska’s House
Und es gibt Jewgenija Solnzewa. Die 43-jährige Lokalpatriotin kann stundenlang davon erzählen, wie hier alles mit allem zusammenhängt. Ihr Dorf möchte sie lebens- und liebenswerter machen. Die üblichen Einwände, von Was-geht-mich-das-an bis Das-wird-sowieso-nichts, hat sie für sich schon beantwortet und ein völlig heruntergekommenes Bauernhaus gekauft, um es um- und auszubauen. Die Entscheidung ist ihr nicht leicht gefallen. „Als ich das erste Mal dort war, lag ein toter Vogel auf der Treppe, da bin ich gleich wieder umgekehrt und erst nach einem Jahr wiedergekommen“, sagt sie. Manchmal habe sie geglaubt, dass es in dem Haus spukt, aber auch gespürt: „Es wollte leben, wollte weiter Freude bereiten. Also hat es mir ein Zeichen gegeben. So läuft das doch, oder?“

Aus der Bruchbude ist inzwischen „Vaska’s House“ geworden, eine Oase der Gemütlichkeit, die aussieht, als sei sie nicht von dieser russischen Welt. Beim Entwurf hat sich Jewgenija offenbar von ihren Reisen nach Nord- und Westeuropa inspirieren lassen. Sie habe einen Ort der Einkehr für Touristen erschaffen wollen, aber auch für Workshops und andere Veranstaltungen sowie für ihre Spielzeugsammlung, die einst im deutschen Rothenburg ob der Tauber ihren Anfang genommen hat. Nun träumt Jewgenija von einem Weihnachtsmarkt auf dem Gelände. Manche, sagt sie, scheinen zu meinen, dass sie zaubern könne. Manchmal glaubt sie das lieber auch selbst. Denn ohne Zauberkräfte seien solche Vorhaben kaum zu realisieren.
Vom Wolf und den Kaninchen
Sidorowskoje ist für Jewgenija „wie ein Magnet, der dich nicht wieder loslässt“. Als sie selbst 1995 aus Sibirien hier angekommen ist, fing aber alles denkbar schlecht an. Ihre Familie flüchtete zusammen mit ein paar anderen vor der Luftverschmutzung in der Großstadt Bratsk, die an der Gesundheit zehrte. Das Geld aus dem Verkauf ihrer Wohnungen sollte in neue Einfamilienhäuser fließen, doch windige Geschäftemacher brannten damit durch. Den Solnzews blieb nichts anderes übrig, als sich fürs Erste in der Schule einzuquartieren.
Jewgenija war damals 15 und auf alles gefasst, nur nicht auf den Empfang, den ihr die Ortsansässigen bereiteten. Im Bratsk der 1990er Jahre hatte sie erlebt, dass die Stärkeren die Schwächeren terrorisierten, dass Prügeleien an der Tagesordnung waren und Eltern ihre Kinder nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Tür ließen. Mit der Clique, die an ihrer Schule das Sagen hatte, wollte sie nichts zu tun haben. Einmal hat man ihr dafür sogar Hunde auf den Leib gehetzt. Also hat sie gelernt, sich zu wehren. „Ich war wie ein Wolf, immer bereit zurückzubeißen.“
An ihrem ersten Schultag in Sidorowskoje witterte die damalige Zehntklässlerin deshalb eine Provokation, als Jungs hinter ihrem Rücken tuschelten. Sie drehte sich um und geigte ihnen die Meinung, was ihre neuen Mitschüler grenzenlos verblüffte. Die erklärten ihr daraufhin, dass sie nichts Böses im Schilde geführt hätten, sondern sie einfach nur kennenlernen wollten. Man fragte sie aus, verabredete sich für später, schenkte ihr Kaninchen. So viel einfache Nächstenliebe musste sie erst einmal verdauen. „Dass die ohne Hintergedanken auf mich zugegangen sind, war für mich ein Unding. Das kannte ich überhaupt nicht. Aber hier war eben alles anders.“
„Dorf der offenen Türen“
Die „wilden“ 1990er Jahre, als nach dem Untergang der Sowjetunion alles möglich war, im positiven wie negativen Sinn, sind in Russland legendär. Und heute? Schließe man die Haustür nicht unbedingt ab. „Wir sind ein Dorf der offenen Türen“, sagt Jewgenija. Idealisieren möchte sie auch die Gegenwart nicht. „Ich habe Investitionsmanagement gelernt. Da wird einem beigebracht, aus der Vergangenheit Schlüsse für die Zukunft zu ziehen. Aber unsere Regierung hat uns dazu erzogen, nur auf das Hier und Heute zu schauen. Was das Morgen bringt, weiß kein Mensch.“
Sie sagt aber auch, dass man sich entfalten könne, wenn man bereit sei, alles dafür zu geben. Aus ihren Worten wird nicht ganz klar, wie viele Jobs sie im Moment hat. Sind es zwei? Drei?
Zaren, Schornsteine und ein Kirchenraub
Noch jede Zeit hat Sidorowskoje in der einen oder anderen Form ihren Stempel aufgedrückt. Selbst auf dem Dorf kam das Echo äußerer Ereignisse an. Einige Jahreszahlen als Beispiele: Unter Peter dem Großen wurde 1724 die Nikolai-Kirche mit ihren prächtigen Wandmalereien und der fünfstöckigen Ikonenwand vollendet. Der Zar höchstpersönlich soll den Bau genehmigt haben, denn eigentlich ging ihm sein St. Petersburg damals über alles, weshalb Beschränkungen im übrigen Lande galten. 1767 ließ Katharina die Große auf ihrer denkwürdigen Wolga-Reise die Ländereien mit Sidorowskoje dem Grafen Wladimir Orlow zukommen. Der soll hier seine Familie in Sicherheit gebracht haben, als Napoleon 1812 auf Moskau vorrückte.
1889 jagte der gefeierte russische Landschaftsmaler Isaak Lewitan in den hiesigen Wäldern, als er seinem Freund und Kollegen Wassili Wopilow einen Besuch abstattete, dessen Grab sich heute auf dem örtlichen Friedhof befindet. 1918 wurde die Schmuckfabrik von Sidorowskoje gegründet, die auf einer langen Tradition des Handwerks im Ort aufbaute, von der sogar internationale Preise zeugen sollen. Die Fabrik existiert bis heute. Nach der Webseite der Gemeindeverwaltung liegt der Durchschnittslohn dort bei „über 15.000 Rubel“, das wären etwa 150 Euro.
1942 wurden Kinder aus dem von den Deutschen belagerten Leningrad nach Sidorowskoje evakuiert. 1969 ging am gegenüberliegenden Ufer der Schatscha eines der größten Wärmekraftwerke der Sowjetunion in Betrieb. Dessen drei Schornsteine überragen seitdem den Glockenturm der Nikolai-Kirche um einiges, allen voran der mit 320 Metern höchste. In der eigens für die Arbeiter des Kraftwerks gebauten Stadt Wolgoretschensk arbeiten heute auch viele Dörfler. Umgekehrt hat so mancher Städter ein Haus in Sidorowskoje. Dort ereignete sich 1999 ein besonders dreistes Verbrechen: Diebe stiegen durchs Fenster in die Nikolai-Kirche ein und raubten 54 wertvolle Ikonen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Sie mussten durch andere ersetzt werden.
Die Nikolai-Kirche ist mittlerweile hübsch restauriert. „Beim nächsten Mal zeige ich Sie Ihnen von innen“, sagt Jewgenija Solnzewa zum Abschied, die gute Seele eines so typischen wie untypischen russischen Dorfes.
Tino Künzel