Kommt mir nicht in die Tüte

Sie ist in Russland nicht wegzudenken: die Plastiktüte, ein Symbol unserer Konsumgesellschaft. Doch warum haben Russen solch ein inniges Verhältnis zum Polyethylenbeutel? Ein Erklärungsversuch.

Frisch gewaschen und zum Trocknen aufgehängt: Manch eine Plastiktüten wird sorgsam gepflegt und gehegt. Foto: petalouda62/Flickr.

Erst war es eine bunte Plastiktüte, die mir in der Vorweihnachtszeit ins Auge fiel. Zwei Champagnergläser, buntverpackte Geschenke und im Hintergrund das Funkeln eines Feuerwerks. Dieses kitschige Stillleben gibt es in unzähligen Varianten. Mal mit Trauben, mal mit Pralinen. Oder sogar mit dem Logo bekannter Designermarken. Die Plastiktüte scheint zu sagen: Seht her, ich bin nicht nur vielseitig einsetzbar, ich kann auch chic sein. Nun sehe ich ständig und überall Menschen in Begleitung von Plastiktüten. Ob Babuschkas, die darin ihr Hab und Gut transportieren, Frauen, die neben einer schlanken Damenhandtasche immer eine Plastiktüte bei sich tragen, wo akkurat Unterlagen aufbewahrt werden oder Männer, die selbstbewusst zu ihrem Plastiksackerl stehen.

Die Plastiktüte wird quer durch die Gesellschaft getragen. Und sie ist nicht das alleinige Fetischobjekt des verwirrt-genialen Mannes, wie es der berühmte Wiener Opernkritiker Marcel Prawy zur Schau stellte. Er pfiff auf die Aktentasche und trug lieber einen Sackerl von Billa oder Spar. Dem Ruf des Ordinären zum Trotz.

Plastiktüte in der Sowjetunion: Ein Statusobjekt

Manch einer würde sagen, dass Polyethylen ein Weltproblem sei, nicht nur das der russischen Hauptstadt. Einen Unterschied gibt es dennoch. Zumindest sagt es mir Google. Die russische Webseite „TheQuestion.ru“ gab Antworten auf dieses Phänomen. Die Liebe zur Plastiktüte sei ein Relikt der Sowjetunion. Man trug ein Einkaufsnetz, bevor die ersten Plastiktüten in den 70er Jahren es jenseits des Eisernen Vorhangs geschafft haben. Im Sozialismus waren schließlich alle gleich, geheimniskrämerisch brauchte man da nicht zu sein. Plastiktüten waren dagegen Prestigeobjekte. Wer sich mit einer Plaste sehen ließ, war ein modischer Zeitgenosse, der im Ausland Kontakte hatte. Oder Geld. Sonst wäre es schwierig gewesen, an diese Mangelware heranzukommen. Der Homo Sovieticus ehrte, wusch, hegte und pflegte seinen Plastikbeutel. Auch heute trifft man in der freien Wildbahn abgewetzte Exemplare, deren Motive sichtlich verbleicht sind, wie Jeans in Stone-Waschung.

Für alle sichtbar, was eingekauft wurde: Das Einkaufsnetz bleibt ein Klassiker. Manche lieben ihre Plaste kitschig. /Foto: Alex Naanou/Flickr.

Doch zunehmend machen der Plastiktüte robuste und extravagante Papiertüten mit Schnurgriffen von Prada, Louis Vuitton und Co. Konkurrenz. Auf Avito werden sie für bis zu 1000 Rubel verhökert. Vielleicht fristet die Plastiktüte in Russland bald eine ähnlich belanglose Existenz wie in Deutschland: irgendwo in den Untiefen einer Schublade.

Katharina Lindt

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