Nach 20 Jahren Putin: Das nicht mehr ganz so wilde Russland von Frank Ebbecke

Seit inzwischen 20 Jahren schaltet und waltet Wladimir Putin in Russland. Wie haben sich die Lebensverhältnisse in dieser Zeit entwickelt? Unser Autor Frank Ebbecke hat die beiden Jahrzehnte als Deutscher vor Ort miterlebt. Hier lässt er seine Alltagsbeobachtungen und -erfahrungen Revue passieren. Ein Text über die Putin-Ära ohne ein Wort über Putin.

Noch als Premierminister schreitet Wladimir Putin im Frühjahr 2000 über einen Acker irgendwo in Russland. © Wladimir Rodionow / RIA Novosti

Mein Moskau. Mitte August, Mitte der Woche, um Mitternacht. Die Flugzeuge auf den vier internationalen Flughäfen landen im Minutentakt. Großfamilienweise kehren sie heim. Aus allen Himmelsrichtungen dieser Welt. Braungebrannt, in Shorts, bunten T-Shirts, Sandalen an den Füßen, auf dem Kopf die unvermeidliche Baseball-Kappe. Das ist sie, die allmählich wachsende Mittelschicht Russlands. Reisen ist für sie einfach geworden. Anschließend wartet ein oft komfortabel ausgestattetes Zuhause und ein ausländisches Markenauto. Ist es nicht das, was sich alle überall wünschen? Wobei: Der Großteil der russischen Bevölkerung wartet eher noch auf die Segnungen der neuen Zeit.      

Moskau, wo ich seit mehr als 20 Jahren arbeite, lebe, leide und genieße, ist mehr Hirn als Herz des Riesenreiches, das „New York des Ostens“. Schmelztiegel der über 160 ethnischen Gruppen russischer Nationalität. In der bei Weitem größten Stadt des Kontinents geht es natürlich hoch her, 24/7/365. Unmengen von Menschen, Autos, Unluft, Hektik. Wer aber weiß schon, dass Moskau den wohl am weitesten digitalisierten Bürgerservice Europas bietet, ein so perfektes wie preiswertes öffentliches Verkehrssystem, mit 138 die weltweit höchste Anzahl an Shopping Malls in einer Stadt, mehr als 20 Kilometer zentraler, gepflegter Fußgängerzonen, über 400 Sprechtheater, zahlreiche Opernhäuser und Konzerthallen, Abertausende Gastbetriebe? Im einstigen Land der Mangelwirtschaft gibt es heute einfach alles. Noch Fragen, warum es sich hier gut und gerne leben lässt? 

Der „Wilde Osten“ der 90er Jahre

Das war in den 1990er Jahren, als ich immer häufiger in Moskau und Russland zu tun hatte, noch sicht- und spürbar anders, damals im „Wilden Osten“. Die nackte Anarchie. Jeder war sich selbst der Nächste, jeder auf der Jagd nach seinem Stück vom Kuchen. Da schossen Autofahrer aufeinander, um die Vorfahrt zu klären. Geschäftliche Unstimmigkeiten konnten schon mal tödlich enden. Firmengründer kauften sich mit US-Dollar in Millionenhöhe und in bar, verpackt in Plastiktüten, ein. Der Chef der nordrussischen Steuer­behörde in St. Petersburg war ein wahrhaftiger Rote-Armee-General mit seinem Offizierskorps als Bodyguards. Noch 1995 bestätigte der Zimmerdiener im ehemaligen Staatshotel „Metropol“ in Moskau mit Blick auf den Kronleuchter schmunzelnd: „Ja, die Mikrofone sind noch da, aber wir benutzen sie nicht mehr.“

Zu der Zeit gab es deutlich weniger Ausgehchancen für Ausländer, so wie die „Hungry Duck“-Bar, wo die lokalen Schönheiten, alles eigentlich erklärte Studentinnen, bisweilen völlig unbekleidet ihren Marktwert auf der Theke vor­tanzten. Auf den Bürgersteigen zu laufen, war wegen unzähliger Bier- und Fuselflaschen oft mühsam oder wegen parkender Autos ganz unmöglich. Und so weiter. Alles selbst überlebt. Und längst Geschichte.

Die ansteckende Art des Sich-nicht-unterkriegen-Lassens

Nach nun mehreren Jahrzehnten Lebenszeit unter Russen und regelmäßig gesund und munter durchgestandenen Krisen – weltweit wie hausgemacht – haben sich meine An- und Einsichten von so manchen angedichteten und medial eingebleuten Vorurteilen wohltuend befreit. Natürlich wird sich das Deutsche in mir auf ewig gegen notorische Unpünktlichkeit, planloses Planen, mangelnden Perfektionismus, allzu viel Lässigkeit aufbäumen. Und die legendäre „russische Seele“ verstehen die Russen ja selber kaum, die lässt sich wohl nur fühlen. Warmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Gastfreundschaft, die hoffentlich auch in dieser wachsenden Konsumgesellschaft nicht weiter abhanden kommen wird. Aber da schwingt auch ein respektheischender Widerstandswillen mit, ein klagloses Durchhaltevermögen, eine kreative Kraft und kollektive Ahnung, dass letztlich alles gut gehen wird. Diesen „Virus“ habe ich mir eingefangen und der tut ganz gut. Er hilft in diesen Jahren der Sanktionen und Gegensanktionen, des Rubelverfalls, stagnierender Einkommen und steigender Preise fürs Alltägliche, unsäglich hohe Kreditzinsen für Wohnungs- und Autoeigentum.

Die „Expats“, die das Handtuch geworfen haben, waren eh meist globale „Wirtschaftsnomaden“. Aber hier gibt es doch noch reichlich zu tun. Jahrhunderte wurden die Russen von ihren jeweiligen Herrschern als ein unmündiges Volk geknechtet. Das Zeitalter der Aufklärung hat Russland gänzlich links liegengelassen. Wohl auch ein Grund, warum Russen nachgesagt wird, meist ein wenig freundliches Gesicht zu zeigen – es gab halt nie schrecklich viel zu lachen. Dieses Vorurteil wächst sich aber inzwischen erkennbar aus. Erst wenige Jahrzehnte, dass sich Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, Kritikfähigkeit, Umweltbewusstsein und andere kulturell westlich geprägte Wertevorstellungen mausern können. Wie lange hat das denn in unseren Breiten gedauert? Das braucht Zeit.

Ich jedenfalls bleibe. Und wünschte, ich wäre noch um einiges jünger, um weiter mitmachen zu dürfen. Denn es wird wohl noch lange dauern, vermutlich gar ein, zwei Generationen, bis sich dieses unendliche, uns weitgehend unbekannte, schöne Land für seine Menschen, die auch nicht anders sind als du und ich, erträglicher gestaltet. Persönliche Freiheit in einer gefestigten, sozial verpflichteten Gesellschaft ist ein menschliches Grundrecht. Und das gilt nicht nur für Russland und die Russen. „Macht braucht man nur für Böses, für den Rest reicht die Liebe“, soll Charlie Chaplin einmal gesagt haben. So ein Komiker war er also gar nicht. Die Hoffnung stirbt bekanntlich als Letztes. Hoffen wir also das Beste. Auch für mein Gastland.

Frank Ebbecke

Wie Putin an die Macht kam

Als Wladimir Putin im Sommer 1999 von Präsident Boris Jelzin zum amtierenden Regierungschef ernannt und am 16. August von der Staatsduma in dieser Funktion bestätigt wurde, hatte Russland innerhalb von knapp anderthalb Jahren vier Premierminister verschlissen. Auch Putin, der als relativ unbeschriebenes Blatt galt und davor ein Jahr lang den Geheimdienst FSB geleitet hatte, wurde vor diesem Hintergrund zunächst nicht als Figur von Dauer wahrgenommen. Doch Jelzin baute den damals 46-Jährigen überraschend zu seinem Nachfolger auf, obwohl anderen Kandidaten wie dem Putin-Vorgänger im Ministerpräsidenten-Amt, Sergej Stepaschin, viel größere Chancen eingeräumt wurden. Zum Jahresende 1999 trat Jelzin zurück und machte den Weg frei für die nahezu beispiellose Kreml-Karriere seines Kronprinzen, der im Mai 2000 erstmals zum Präsidenten gewählt wurde.

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