Die neue Lust auf Kultur

Man kannte das: Schlangen vor dem Lenin-Mausoleum, Schlangen vor dem ersten McDonald’s. Und, schon in jüngerer Vergangenheit, Schlangen vor heiligen Reliquien. Wie schön, dass die Russen nun ganz verrückt nach Museen und Theatern sind.

Eines der meistbesuchten Museen der Welt: die Eremitage in St. Petersburg. © Tino Künzel

Wer der Archip-Kuindschi-Ausstellung in der Tretjakow-Galerie einen Besuch abstatten möchte, der muss sich einerseits sputen, sollte es andererseits aber nicht eilig haben. Die Schau mit 180 Werken des gefeierten russischen Landschaftsmalers aus der Zarenzeit geht nach über vier Monaten am 17. Februar zu Ende – und die Schlangen scheinen mit jedem Tag länger zu werden. Die durchschnittliche Wartezeit betrage fünf Stunden, teilt die Galerie auf ihrer Webseite mit, Karten könnten nur an der Kasse, nicht wie sonst im Internet erworben werden. Ein paar Tickets gibt es dann aber doch online, jedoch nur für die späten Abendstunden. Aktuell gelten bis 23 Uhr verlängerte Öffnungszeiten.

Es ist nicht das erste Mal, dass eine Ausstellung in Moskau zum Ereignis wird. Vor drei Jahren war der Andrang ähnlich, als Bilder des Malers Valentin Serow gezeigt wurden. Damals fiel Tretjakow-Galerie-Chefin Selfira Tregulowa zum Vergleich nur die Resonanz auf eine Ausstellung von 1955 mit Beutekunst aus der Dresdner Gemäldegalerie ein, die vor ihrer Rückgabe an die DDR im Puschkin-Museum zu sehen war. Doch nur Monate nach Serow stellte eine Schau mit Bildern des Malers Iwan Aiwasowskij, eines Zeitgenossen von Kuindschi und Serow, neue Rekorde auf.

Die Besucherzahl der „Tretjakowka“, des populärsten Museums von Moskau, hat sich seit 2014 um etwa ein Drittel auf über zwei Millionen pro Jahr erhöht. Das ist allerdings noch gar nichts gegen die St. Petersburger Eremitage, die ungefähr das Doppelte davon vorzuweisen hat. Die Tendenz zeigt seit Jahren nach oben. Im Herbst sprach Eremitage-Direktor Michail Piotrowskij von 4,5 Millionen Besuchern pro Jahr – mehr als die bisherigen Höchststände aus den 70er Jahren. Nach dem Ende der Sowjetunion seien es in den schwierigen 90er Jahren weniger als eine Million pro Jahr gewesen. Doch inzwischen hat das Interesse ein historisches Maximum erreicht. In diversen Rankings rangiert die Eremitage unter den zehn meistbesuchten Museum der Welt (Spitze: der Pariser Louvre), zum Beispiel hier.

Nun sind Tretjakow-Galerie und Eremitage freilich Sehenswürdigkeiten, die keiner Verallgemeinerung unterliegen und zudem auch zum Pflichtprogramm ausländischer Touristen gehören. Doch die zuständigen Stellen in Russland versichern, dass die wachsenden Zahlen ein genereller Trend sind und die Museen im Lande 2018 von 140 Millionen Menschen besucht wurden, einen Größenordnung, die nicht ganz leicht einzuordnen ist. Jedenfalls ist in letzter Zeit immer wieder von einem Kulturboom die Rede, manchmal von durchaus interessierter Seite wie von Russlands nicht unumstrittenem Kulturminister Wladimir Medinskij. Aber es tut sich ja auch wirklich Erstaunliches. Im vergangenen Jahr habe man 40 Millionen Theaterbesucher gezählt, berichtete Vizepremier Olga Golodez unlängst, das sei eine nie dagewesene Zahl, „mehr als in der Sowjet­union, die doch eine viel größere Einwohnerzahl hatte“.

Allein in Moskau gibt es heute 250 Theater. Auf die und ihr Publikum wartet in diesem Jahr viel Interessantes, denn in Russland läuft das „Jahr des Theaters“. Zentrale Veranstaltung ist ein „Theatermarathon“ quer durch das gesamte Land, der Mitte Januar in Wladiwostok startete und im November in Kaliningrad anlangen soll. Mehr als 500 Veranstaltungen in 100 Theatern sind geplant. Das riecht nach dem nächsten Rekord.

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