Moskau im analogen Rausch

Die Moskauer können die Finger nicht vom Film lassen. In wohl kaum einer anderen europäischen Stadt gibt es so viele Menschen, die ihre Bilder lieber analog als digital machen. Und so viele Enthusiasten, die die Szene mit Kameras und immer neuen Filmen versorgen.

Wann immer es geht, zieht Lisa mit ihrer Kamera los. (Jelisaweta Slawina-Mirskaja)

Der erste Versuch war eine Enttäuschung, sagt Jelisaweta (Lisa) Slawina-Mirskaja ganz offen. Vor acht Jahren schnappte sich die Moskauerin eine der alten sowjetischen Kameras, die bei ihr zuhause rumlagen und fuhr damit nach Monaco. Technisch waren die Bilder gut geworden, meint die 34-Jährige. Die Motive, vor allem Architektur, fand sie banal und langweilig. Nachdem auch ein befreundeter Fotograf von den Bildern nicht wirklich begeistert war, beendete Lisa ihr Filmexperiment.

Vor einem Jahr erwachte ihre Liebe zur Analogfotografie wieder. Wie viele Russen wurde sie während der Selbstisolation im Frühjahr 2020 regelrecht depressiv und suchte nach einer Möglichkeit, kreativ zu werden. Und so nahm sie die alte Minolta ihres Ex-Mannes und zog damit durch die Straßen ihrer Heimatstadt. „Das war ein unbeschreibliches Glücksgefühl“, sagt Lisa. Die erste Woche fremdelte sie noch mit der alten Technik. Sie fühlte sich hilflos, weil man so viel einstellen und bedenken muss, sagt sie. Seitdem ist die Kamera ihre ständige Begleiterin geworden. Wann immer es geht, kauft sie einen Film und zieht los, um den Alltag und die Menschen Moskaus auf Film festzuhalten. Am liebsten in Schwarz-Weiß. Bis heute ist Lisa aufgeregt, wenn sie die Filme abholt, schließlich kann man das Ergebnis nicht vorhersagen.

Trotz aller Smartphones und Digitalkameras hat die Analogfotografie in Moskau eine treue Fangemeinde. Überall in der Stadt trifft man Menschen an, die lieber einen Film statt einer Speicherkarte in ihren Fotoapparat stecken. Viele Hipster sind darunter, die mit günstigen Kompaktkameras ihren Müßiggang und Retro-Style dokumentieren. Vor den Bäuchen der Moskauer kann man aber auch das ein oder andere Prachtstück entdecken. Selbst das Massenblatt „Komsomolskaja prawda“ hat die analoge Begeisterung mitbekommen und ein Ranking der besten Filmkameras für 2021 veröffentlicht.

Moskauer Stadtimpression, aufgenommen mit einer sowjetischen Vilia-Kamera (Foto: Daniel Säwert)

Diese Anleitung brauchen die meisten aber nicht. Sie wissen, was sie wollen und wo sie ihre Kameras herbekommen. Bis vor zehn oder fünfzehn Jahren waren die Trödelmärkte der Stadt Anlaufpunkt für Analogfans. Hier verkauften vor allem ältere Männer ihre sowje­tischen Kameras. Geblieben ist heute eigentlich nur noch der Markt am Kreml in Ismailowo. Der Flohmarkt ist digital geworden. Auf Plattformen wie Avito bekommt man heute alles von der guten alten LC-A bis hin zur sündhaft teuren Leica. 

Herr über 2000 Kameras

Oder man steuert einen der Läden an, die sich auf analoge Kameras spezialisiert haben, wie etwa Wonderfoto. Inhaber Leonid Woloschin ist seit vielen Jahren dem Phänomen Film verfallen. Dabei kam der 32-Jährige erst spät zu seiner Leidenschaft. Seitdem probiert sich der Autodidakt durch die Welt der analogen Kameras. Seine Liebe gilt vor jenen Apparaten, die kaum oder am besten gar keinen modernen Schnickschnack bieten. Für ihn muss Fotografie möglichst „Hardcore“ sein. Bei seinen Experimenten hat Leonid einen entscheidenden Vorteil. Denn in seinem Fotoladen in Marina Roschtscha, den er vor zehn Jahren eröffnet hat, sind immer um die 2000 Kameras vorrätig, die sich im Verkaufsraum regelrecht stapeln. Ein Paradies für jeden Fotoenthusiasten.

Einen Favoriten hat er dennoch nicht. „Solange ich nicht alle ausprobiert habe, gibt es für mich keine Lieblingskamera“, sagt Leonid. Seine Kameras bekommt er aus der ganzen Welt. Doch seitdem es immer wieder Ärger mit dem Zoll gibt und aus Japan seit Beginn der Pandemie keine Pakete mehr kommen, sucht er verstärkt in Russland. Schließlich haben viele Menschen in den 1990ern Kameras im Westen gekauft und kommen jetzt in ein Alter, in dem sie die Fotografie aufgeben.

Man sollte mindestens drei Kameras haben

Ein weites Netzwerk hilft ihm, die Kameras überall im Land aufzuspüren. Dafür gibt Leonid gerne auch viel Geld aus, schließlich kann er sie nach dem Test verkaufen. Wer analoge Fotografie liebt, sollte mindestens drei Kameras haben, ist Leonid überzeugt: eine Kompaktkamera für den Spaziergang, eine Spiegelreflexkamera und eine Mittelformatkamera für Studioaufnahmen.

Wie viele Kameras Wonderfoto im Monat verkauft, kann Leonid nicht genau sagen. Kameras sind ein Saisongeschäft, meint er. Gekauft wird vor allem im Sommer und im Dezember. Und dann sind da noch die Social-Media-Trends. Gerade auf TikTok heißt es „je schlechter, desto besser“. Ruft ein populärer TikToker eine Challenge aus, kommt es bei ihm schon mal zu ungewöhnlichen Käufen. Vor Kurzem kam ein Mann zu ihm und kaufte 30 Exemplare einer Kamera. Die brauchte er wegen TikTok, lacht Leonid. Instagramer hingegen kaufen oft gute Kameras.

Wonderfoto ist ein Paradies für Kameraliebhaber (Foto: Daniel Säwert)

Trotz aller Social-Media-Hypes bleiben analoge Fotoapparate doch eine gewisse Nische. Für Leonid ist das in Ordnung. Zwar möchte er als Geschäftsmann mit Wonderfoto wachsen, kennt aber die Grenzen. Einen zweiten Laden oder ein Umzug ins Stadtzentrum kommt für ihn nicht in Frage. Da könnte er sicher alle seine Kameras innerhalb eines Monats verkaufen. Doch dann wäre für den nächsten nichts mehr übrig. Denn so viel Nachschub gibt es einfach nicht. Wer eine Kamera will, muss deshalb zu ihm nach Marina Roschtscha kommen. 

Analoge Fotografie ist wie Bier – schädlich und angenehm 

Einfacher ist es hingegen, einen Film entwickeln zu lassen. Überall in der Stadt haben in den vergangenen Jahren Fotoläden eröffnet, nicht nur im Zentrum. Auch in den Schlafvierteln ist es selten weit bis zum nächsten Ort, an dem man seinen Film abgeben kann. Und das zu äußerst günstigen Preisen. 

Moskaus größtes (und nach eigener Aussage das größte in der ehemaligen Sowjetunion) Fotolabor Sreda befindet sich in einem alten Industriebau an der Metrohaltestelle Leninskij Prospekt. Über 32 000 Menschen sind Teil der Sreda-Community, wie man sich selbst versteht, über 80 Prozent davon aus Moskau. Aber auch Engländer und Japaner lassen sich aus Moskau Filme schicken. 

Handarbeit im Sreda-Labor. Ein Mitarbeiter bereitet einen Film zum Scannen vor. (Foto: Daniel Säwert)

Darüber, warum Menschen im 21. Jahrhundert immer noch aufwendig mit Film fotografieren, kann Mitinhaber Pawel Kosenko lange reden. Film ist einfach geil, sagt der 46-Jährige, der bereits sein ganzes Leben mit dem Material arbeitet. Vor allem die Farben und der Prozess faszinieren ihn, der ist einfach lebendiger als beim digitalen Bild. Und klar, für die Jugend ist es halt eine Mode. Analoge Fotografie ist wie Bier: „Teuer, dumm und schädlich – aber sehr angenehm“, meint Pawel. 

Auch berühmte Fotografen sind fasziniert

Früher hatte Pawel eine Fotoschule. Nachdem die nicht mehr lief, entschloss er sich gemeinsam mit seinem Geschäftspartner etwas aufzubauen, „was Spaß macht“. Beim Aufbau des Fotostudios waren seine Kontakte sehr hilfreich. Bekannte Fotografen wie Jewgenij Feldman, Dmitrij Markow oder Georgij Pinchasow, der einzige russische Magnum-Fotograf, sind regelmäßig zu Besuch und lassen ihre Bilder und Bücher hier drucken. Das bringt nebenbei kostenlose Werbung. 

Dabei ist Sreda auch so erfolgreich. „Wir haben den Film in Moskau vorangetrieben“, zeigt sich Pawel selbstbewusst. Andere Läden hätten sich nach der Eröffnung bei ihm bedankt, sagt er. Denn auch sie verkaufen seitdem mehr Filme. Wahrscheinlich sollte der Dank eher den vielen Enthusiasten in Moskau gelten. 

Sreda ist der Anlaufpunkt für alle, die günstige, oder aber besondere Filme suchen. Das Fotostudio ist der einzige offizielle Kodak-Händler in Russland. Ein Status, den die US-Amerikaner zuvor 20 Jahre nicht verliehen hatten. Auch mit dem letzten verbliebenen rus­sischen Hersteller Tasma arbeiten die Moskauer zusammen. Gekauft wird fast alles, was man bekommen kann, am liebsten auf großen Spulen. Die Suche nach neuen Filmen hat Pawel auch schon nach Berlin geführt. Spätestens seitdem er bei Foto Impex in der deutschen Hauptstadt rollenweise einkaufte, verbindet die beiden Geschäfte eine Freundschaft. 

„Wir kaufen mehr Kinofilm als Mosfilm“

Pawel und seine Mitstreiter lieben es, selbst Hand anzulegen und zu experimentieren. Die großen Rollen schneiden sie im Labor in die handelsübliche Länge. Das machen viele mittlerweile, zumindest was Kleinbildfilme angeht. Mittelformatfilme zu schneiden hingegen, das können sie fast nur bei Sreda. 

In letzter Zeit schneiden die Mitarbeiter vor allem Kinofilme zurecht. Die wurden in den vergangenen Jahren zu einem Trend, auch deshalb, weil die Hersteller die Nachfrage nach Fotofilm nicht mehr befriedigen können. Seit anderthalb Jahren wartet Pawel beispielsweise bereits auf eine Bestellung von 25 000 Kodak-Filmen. „Wir kaufen mehr Kinofilm als Mosfilm“, sagt er. Um die zehn Spulen gelangen jeden Monat in seine Hände. Lange haben sie bei Sreda experimentiert, bis sie die Kinofilme richtig entwickeln konnten. Den ganzen Aufwand betreiben sie, um die Filme für einen guten Preis anbieten zu können. Denn trotz aller Leidenschaft ist die analoge Fotografie ein kostspieliges Vergnügen. Und Hipster sind halt nicht reich, scherzt Pawel. Professionelle Filme kosten gerne mal 1200 Rubel (13 Euro).

Kinofilme wie der Kodak Vision sind in Moskau sehr beliebt. Auch wegen ihrer Farben. (Foto: Daniel Säwert)

Da freuen sich die Kunden, wenn sie nur 500 Rubel (5,50 Euro) ausgeben müssen. Und greifen sofort zu. Kurz vor dem Gespräch bekam Sreda eine Lieferung von Kodak-Gold-Filmen. An nur einem Tag wurden davon 800 Stück verkauft. „Der Markt ist hungrig“, meint Pawel. Da kaufen die Leute bei guten Angeboten auch schon mal große Mengen. Und die kommen dann eine Woche später wieder zum Entwickeln zurück. Sreda verspricht seinen Kunden, die Filme innerhalb von drei Stunden zu entwickeln und zu scannen. Schneller schafft das in Moskau niemand. Dafür ist es etwas teurer. Schließlich wurden für die schnelle Entwicklung Spezialmaschinen angeschafft. Zwei Schichten pro Tag wird im Labor entwickelt und gescannt, von 8 Uhr bis Mitternacht. In den Hochphasen wird noch eine Nachtschicht eingelegt. Reich wird man davon nicht.  

Ganz analog geht es doch nicht 

Doch darum geht es Pawel auch gar nicht. Für ihn ist Sreda nicht nur ein Geschäft, sondern vor allem ein Forschungslabor, in dem Neues ausprobiert werden soll. Sechs Jahre haben er und seine Kollegen an einem Plug-in gearbeitet, dass digitalen Bildern einen analogen Look verpasst. Im vergangenen Jahr ging Dehancer an den Start und begeistert seitdem vor allem Hollywood-Studios. Später wurden Versionen für Smartphones und andere Plattformen entwickelt. 

Auch Leonid stellt seine Kameras hauptsächlich online auf YouTube vor. In den Videos erklärt er von der Pike auf, wie sie funktionieren und testet sie. So alltagsnah wie möglich. Immer wieder trifft er Menschen, die sich bei ihm dafür bedanken. Der Kanal soll in Zukunft weiter ausgebaut werden. Neben den Kamerabesprechungen schwebt Leonid eine Talkshow zu analoger Fotografie vor. Wonderfoto soll zu einer globalen Plattform werden, wünscht sich Leonid. Selbst wenn es seinen Laden vielleicht nicht mehr geben sollte, bleiben dann wenigstens die Informationen für jeden frei zugänglich im Netz. 

An solche Dimensionen will Lisa gar nicht denken. Sie ist froh, dass ihre „Leidenszeit“ vorbei ist. Zwei Monate musste sie ohne Kamera auskommen. Wie ein Mensch ohne Hände hat sie sich gefühlt, klagt Lisa. Am Ende erlöste sie schließlich ein Freund und brachte ihr eine neue Kamera. Für Lisa ein glücklicher Moment. Sie will nur noch schnell die Einstellungen soweit zurücksetzen, dass sie möglichst viel selbst machen muss. Und dann kann es wieder losgehen. Film einlegen und den Moskauer Alltag auf 35 Millimeter festhalten. 

Daniel Säwert

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