Ein Land auf der Suche: Starfotograf Daniel Biskup über Russlands 90er Jahre

Die Moskauer Deutsche Zeitung ist ein Kind der 90er Jahre, so wie das heutige Russland. Was war das für eine Zeit, die für die Russen noch viel schmerzhafter gewesen zu sein scheint als für ehemalige „Brudervölker“ in Osteuropa? Daniel Biskup, deutscher Starfotograf, hat Russland spe­ziell in jenen postsowjetischen Jahren intensiv bereist und gilt als Chronist des Umbruchs. Wie er Land und Leute dabei erlebte, schildert er im Interview.

Man rumpelte irgendwie vorwärts: Berufsverkehr Anfang der 90er Jahre. © Daniel Biskup / www.salzundsilber.de

Herr Biskup, wann waren Sie zuletzt in Russland?

Bei der Präsidentschaftswahl im März. Ich dokumentiere mit meinen Fotos seit 30 Jahren den Umbruch in Russland. Da ist so eine Wahl natürlich ein Thema.

Ihre ersten Russland-Fotos datieren von 1988, also noch aus Sow­jet­zeiten. Was hat Sie damals hierher geführt?

Ich wollte mir einen Eindruck von dem Land verschaffen. Um da hinzukommen, habe ich eine Studienreise gebucht: eine Woche Moskau mit Flug und Übernachtung für 500 D-Mark. Geflogen sind wir mit der Interflug von Schönefeld und in Moskau im Hotel „Cosmos“ abgestiegen. Aus dem Besichtigungsprogramm habe ich mich ausgeklinkt, bin stattdessen durch die Stadt gezogen. Und weil ich schon immer Spaß am Fotografieren hatte, sind dabei auch Bilder entstanden.

Das war die Zeit der Perestroika unter Gorbatschow. Wie würden Sie die Stimmung beschreiben?

Ich habe ein Land erlebt, das in einer gewissen Agonie war. Die Leute waren damit beschäftigt, ihre Existenz zu sichern, weil es nichts zu kaufen gab. Die Wirtschaft war völlig am Boden. Gorbatschow hat es nicht geschafft, die Produktion anzukurbeln, er war ja zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre im Amt. Aber was man im persönlichen Kontakt gespürt hat, war, dass die Menschen trotz allem ihre Lebensfreude nicht verloren haben. Und sie waren dem Westen gegenüber sehr aufgeschlossen. Da hat die Entspannungspolitik von Gorbatschow Spuren hinterlassen.

Apropos Gorbatschow: Der war im Westen deutlich beliebter als in der Heimat.

Gorbatschow konnte auf der internationalen Bühne besser punkten. Ich glaube, er hatte auch viel mehr Spaß, mit westlichen Politikern zu diskutieren als mit Ceausescu oder mit Honecker. Die fand er eher peinlich.

Das Problem von Gorbatschow im eigenen Land war meines Erachtens, dass er immer noch an die Partei geglaubt hat. Jelzin hatte die schon längst aufgegeben und hat sich ja dann 1989 bei den Wahlen zum Volksdeputiertenkongress in seinem Wahlbezirk auch gegen den Wunschkandidaten der KPdSU durchgesetzt.

So sah für viele der Kapitalismus von unten aus: Trödelmarkt vor dem Kinderkaufhaus Detskij Mir am Lubjanka-Platz mitten im Moskauer Stadtzentrum. © Daniel Biskup / www.salzundsilber.de

Schon kurze Zeit später, 1991, war die Sowjetunion Geschichte. Was danach kam, ist für viele Russen ein Trauma. Als Fotograf haben Sie das Land damals häufig besucht. Wenn Sie heute nach Russland kommen, was ist für Sie der gravierendste Unterschied?

Der Gesellschaft geht es wirtschaftlich in großen Teilen deutlich besser. Da ist viel geleistet worden. Politisch waren die 90er Jahre für die Russen sicherlich das freieste Jahrzehnt. Instabil, aber sehr spannend, sehr kreativ. Man konnte sich selbst entwickeln, und gerade junge Leute haben viel daraus gemacht.

Heute sieht man, dass bestimmte alte Muster zurückkehren. Ich höre von Leuten, dass sie ihre politische Meinung nur noch im engsten Kreis äußern, nicht mehr auf der Arbeitsstelle oder in der Öffentlichkeit. Das ist also ein gewisser Rückschritt. Andererseits hat man einen Nawalnyj, der praktisch sagen darf, was er will. Aber vielleicht ist das ja auch so gewollt, zumal er ohnehin nur über einen sehr begrenzten Einfluss verfügt.

Können Sie nachvollziehen, dass die 90er Jahre in Russland einen ganz schlechten Ruf genießen?

Natürlich will sie keiner zurück. Das war eine schwierige Zeit. Viele Leute mussten ihr Hab und Gut verkaufen. Es gab zwei Währungsreformen, die Menschen haben ihr Geld verloren. Vor allem die Intelligenz hat darunter gelitten, dass ihre Arbeit nicht mehr geschätzt wurde. Es gab Raubtierkapitalismus und Kriminalität. Aber andererseits konnte eben zum ersten Mal über alles diskutiert werden. Es wurden die Verbrechen der Stalinzeit aufgearbeitet. Das mag für die meisten keine so vordergründige Rolle gespielt haben, aber es war ein Teil des gesellschaftlichen Lebens.

Wann haben Sie am deutlichsten gespürt, dass da jetzt ein frischer Wind wehte?

1991 beim Putsch gegen Jelzin und Gorbatschow. Da sind ganz unterschiedliche Leute gegen die Putschisten auf die Straße gegangen und haben denen keine Chance gelassen.

Da war er gerade zum Nachfolger von Boris Jelzin als russischer Präsident gewählt worden: Wladimir Putin im Juni 2000 bei seinem ersten Interview für die deutsche Presse. © Daniel Biskup / www.salzundsilber.de

Im Juni 2000 hat Wladimir Putin, gerade neuer Präsident geworden, mit der „Welt am Sonntag“ erstmals ein deutsches Medium empfangen. Sie waren mit der Kamera dabei. Wie wirkte Putin auf Sie?

Er war sehr höflich, hat sehr sanft und leise gesprochen, sich nach Helmut Kohl erkundigt. Im Interview hat er Russisch gesprochen, aber im „privaten Teil“ vorher und nachher, in perfektem Deutsch. Es war alles sehr entspannt.

Und heute? Hat er sich verändert?

Vor allem hat sich die Zeit geändert. Damals hat man geglaubt, der Kalte Krieg sei zu Ende. Heute stecken wir mittendrin. 2000 spielte Russland international keine Rolle, Putin hat es zurück auf die Weltbühne gebracht. Ich habe ihn über die Jahre insgesamt sechs Mal porträtiert. Heute hat er eine ganz andere Körpersprache als am Anfang und tritt sehr selbstbewusst auf.

Das Interview führte Tino Künzel.

 

Zur Person: Daniel Biskup

Daniel Biskup 1990 in der Nähe von Lemberg. © Daniel Biskup / www.salzundsilber.de

1962 in Bonn geboren, ent­wickelte Daniel Biskup früh ein Interesse für Osteuropa: Seine Eltern stammen aus ehemals deutschen Gebieten auf dem Boden des heutigen Polens. Biskup studierte Politik und Geschichte in Augsburg, brachte sich nebenbei das Fotografieren bei und verfolgte Russlands Wechseljahre rund um das Ende der Sowjetunion mit der Kamera. Er sagt: „Meine Generation hatte das Glück, mit dem Fall der Mauer und den Umwälzungen in Osteuropa bis hin nach Russland Geschichte live zu erleben. Ich hatte das Glück, das alles als Fotograf einzufangen.“ In den vergangenen 18 Jahren hat Biskup für deutsche Medien viele Größen der Welt porträtiert, darunter auch Wladimir Putin. Die Fotos zu unserem Beitrag finden sich in seinem Bildband „Russland  – Perestroika bis Putin“. Das Buch kann beim Verlag Salz und Silber und bei Amazon bestellt werden.

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