Mein Corona-Asyl auf der Datscha

Als seine Tochter in Quarantäne muss, verabschiedet sich unser Designer Hans Winkler mit Kind und Kegel auf die Datscha. Hier erzählt er davon.

Laut Statistik nennt mehr als die Hälfte der Russen ein Landhaus sein eigen. Meist taugt diese Datscha zumindest in der warmen Jahreszeit zum ständigen Aufenthalt. In der Pandemie haben viele davon noch mehr Gebrauch gemacht als sonst. (Foto: Tino Künzel)

Den Frühjahrs-Lockdown habe ich mit Anstand, Würde und einer Portion unerschütterlicher Zuversicht, dass er in zwei Monaten wieder vorbei sein würde, ausgesessen. Meine Frau, meine Tochter und ich machten es uns in unserer bescheidenen Wohnung im Südwesten von Moskau gemütlich. Für mich als freischaffenden Grafiker war Homeoffice auch vor der Pandemie kein Fremdwort gewesen und so hatte ich schnell meinen häuslichen Arbeitsplatz eingerichtet. Meiner zwölfjährigen Tochter, die eine russische Schule besucht, fiel das Umsatteln auf Homeschooling ebenso leicht. Auch meine Frau arrangierte sich mit der Situation. Wir konnten dem Ganzen durchaus etwas Positives abgewinnen.

Als sich das Virus pünktlich zum Schulbeginn nach den Sommerferien zurückmeldete, war die Romantik allerdings verflogen. Zu allem Überfluss musste meine Tochter nach nur drei Schulwochen in Quarantäne. In ihrer Klasse hatte sich ein Covid-Fall bestätigt. Der Elternchat quoll über vor finsteren Warnungen. Es hieß, alle Haushalte kämen auf eine Liste und würden streng überwacht. Uns drohten unangekündigte Hausbesuche durch den zuständigen Polizeimeister, Kontrollanrufe zu jeder Tageszeit und natürlich empfindliche Strafen bei Fehlverhalten. Was könnte da wohl ein Ausweg aus diesem Dilemma sein? Für uns lag er auf der Hand: die Datscha.

Nichts wie weg aufs Dorf

Wie die meisten alteingesessenen Moskauer, besitzen auch meine Schwiegereltern ihr Stück grünes Glück vor den Toren der Stadt, nämlich im Dorf Alfjorowo bei Tschechow, 70 Kilometer südlich von Moskau. Ich hatte zur Datscha immer ein ambivalentes Verhältnis. Gern bin ich für ein verlängertes Wochenende dort, freue mich aber auch immer, wenn es zurück nach Moskau geht. Nun sollte die Datscha unsere Rettung sein.

Wir packten unsere Siebensachen und flohen aus der Großstadt, bevor uns irgendeine Liste einen Strich durch die Rechnung machen konnte. Die Einrichtung eines belastbaren Internets auf der Datscha kostete uns zwar einige Zeit und Rubel, aber irgendwann schnurrte dann eine abenteuerlich anmutende Antenne auf dem Fensterbrett und brachte die weite Welt nach Alfjorowo.

Datscha-Idyll, Datscha-Blues

Zunächst lief alles bestens. Die Vorteile lagen ja auch auf der Hand: Frische Luft und Vogelgezwitscher waren ein prächtiger Ersatz für Autolärm und Smog. Ich genoss es, Zoom-Konferenzen auf der Terrasse zu verbringen oder in Arbeitspausen zur körperlichen Ertüchtigung Unkraut zu jäten. Für das leibliche Wohl war durch die Schwiegereltern auch umfassend gesorgt: Der Tag begann zünftig mit einer Schüssel Kascha, kein Mittagstisch kam ohne Vorsuppe und 50 Gramm aus Schwiegerpapas Wodka-Flasche aus. Und abends wurde regelmäßig Schaschlik aufgelegt.

Mit zunehmender Dauer unseres Landaufenthalts brauten sich dann aber doch ein paar Wölkchen am sonst so azurblauen Himmel der Datscha-Idylle zusammen. Meine Tochter begann, ihre Freundinnen zu vermissen und sich gegen die vielzähligen wohlgemeinten Ratschläge zu gesunder Ernährungs- und Lebensweise aufzulehnen. Meiner Frau fiel es zusehends schwer, Konfliktsituationen, die in jeder Eltern-Kind-Beziehung früher oder später aufflammen, aus dem Wege zu gehen. Und auch ich spürte allmählich den Datscha-Blues, wollte mal wieder ein Gesicht sehen, das nicht zum engsten Familienkreis gehört. Hinzu kam, dass es immer herbstlicher und damit zuweilen schon empfindlich kalt wurde. Das Heizen aber war hier ein deutlich komplizierteres Thema als in Moskau.

Mittlerweile haben wir unseren Lebens- und Arbeitsmittelpunkt wieder in die Stadt zurückverlegt. Im Rückblick erscheint uns die Flucht aufs Land schon wieder als Moment der Glückseligkeit, den wir nicht missen möchten. Ich denke, es wird in absehbarer Zukunft wieder vorkommen, dass wir uns zwischen Moskauer Wohnung und Datscha entscheiden müssen. Und es ist gut zu wissen, dass wir die Wahl haben.

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