Lieb und teuer: Pljoss, seine Datschen und die Politik

Pljoss ist die kleinste Stadt an der Wolga. Ein russisches Land­idyll, das sich in den letzten 15 Jahren für ein zahlungskräftiges Publikum aus Politik, Wirtschaft und Kultur herausgeputzt hat. Der 600 Jahre alte Ort könnte nun auch davon profitieren, dass für viele russische VIPs das westliche Ausland in weite Ferne gerückt ist.

Der Blick vom Kirch- zum Lewitan-Berg ist wohl das schönste Stadtpanorama.

Ein Sommerurlaub mit ihren Eltern ist die erste Erinnerung, die Jelena Wakulenko an Pljoss hat. Man wohnte im Sanatorium, wie das damals üblich war, der Speisesaal ist ihr im Gedächtnis geblieben. „Es war das einzige Mal, das wir überhaupt irgendwo Urlaub gemacht haben.“ Ansonsten verbrachte Jelena die Sommer meist bei Oma auf dem Dorf, wie so viele russische Kinder ihrer Generation.

Manche fuhren in den großen Fe­rien natürlich auch ans Schwarze Meer, „aber da bin ich als Kind nie gewesen“, erzählt die heutige Deutsch- und Englischlehrerin aus der Großstadt Kostroma. Die liegt ebenfalls an der Wolga, nur 50 Kilometer flussaufwärts von Pljoss.

Namhafte Urlauber

Der kleine Ort hat Wakulenko auch später nicht mehr losgelassen. Zu Studentenzeiten wurde es zur Tradition, dass sie mit einer Freundin hier ihre Geburts­tage feierte. Seit vorigem Jahr arbeitet sie in Pljoss nun als Fremdenführerin. Zu den Urlaubern, die sie in ihrem ersten Sommer die drei Kilometer lange Uferstraße, den Kirchberg mit der Mariä-Himmelfahrts-Kathe­drale von 1699, den Lewitan-Berg oder den Marktplatz zeigte, gehörten ein Gouverneur, ein Moskauer Amtsleiter, namhafte Schauspieler und Sänger.

Das war eine ganz andere Klientel, als Jelena Wakulenko sie damals in Kostroma nach ihrem Pädagogikstudium hatte. Drei Jahre führte sie Reisegruppen von Deutschen herum, die mit Kreuzfahrtschiffen über die Wolga schipperten und hier und da an altrussischen Städten anlegten. Sie hatten ein Faible für Zwiebeltürme, waren pflegeleicht und geizten nicht mit Trinkgeld.

Kein Massentourismus

Mit Reisegruppen tut man sich in Pljoss schwer. Es gebe nicht mal einen Parkplatz für Busse, seufzen Branchenvertreter hin und wieder, wenn sie von Journalisten darauf angesprochen werden. Die Gastronomie sei nicht für die schnelle Verköstigung größerer Menge von Besuchern ausgelegt und die Übernachtungspreise sprengten jedes Pauschal­angebot, das man Ausflüglern aus normalen Einkommensverhältnissen zumuten könne.

Pljoss hat 1700 Einwohner. Im historischen Teil der Stadt am Wasser und auf den angrenzenden Hügeln leben die wenigsten von ihnen. Dort hat der Ort in der jüngeren Vergangenheit eine beispiellose Renaissance erlebt, bei der Alexej Schewzow die Hauptrolle spielte. Der Unternehmer hat als Großindustrieller im Ural ein Vermögen verdient und sich in den 1990er Jahren in Pljoss niedergelassen – seine Großmutter wohnte ganz in der Nähe in Priwolschsk. Heute gehören ihm Hotels und Restaurants, vor allem aber hat er zahlreiche Holzhäuser restaurieren oder originalgetreu wieder aufbauen lassen.

Kaum Spuren der Sowjetunion

Zu Sowjetzeiten, sagte Schewzow im vergangenen Jahr dem Journal „Snob“, habe Pljoss bei all seiner Schönheit „erstaunlich abweisend“ gewirkt. Die erklärte Mission seines Projekts „Hidden Russia“ ist es nun, die gute alte vorsowjetische Zeit wieder heraufzubeschwören. Tatsächlich funktioniert diese Illusion in Russland höchstens noch in Susdal ähnlich gut. Aber das Weltkulturerbe Susdal hat bedeutende Klöster und Kirchen zu bieten und will aktiv besichtigt werden. Pljoss ist eher gepflegtes Nichtstun. Trotz mancher Museen ist seine eigentliche Sehenswürdigkeit das Bild, das es vermittelt, und die Stimmung, die von ihm ausgeht.

Wenn man Bilder vom Ende des 19. oder Anfang des 20. Jahrhunderts und von heute nebeneinanderlegt, sind die Unterschiede minimal. Diesen Charme eines Städtchens von anno dazumal auf sich wirken zu lassen, geht auch ohne Besichtigungsprogramm. Es reicht, oben auf dem Kirchberg zu sitzen und das Stillleben unten im Tal zu betrachten oder zur Abwechslung ziellos durch die Straßen und Gassen zu bummeln.

Das Pljoss von Lewitan

So hat das ja auch Isaak Lewitan gehalten, der gefeierte russische Landschaftsmaler. Pljoss entdeckte er zufällig für sich, als er 1888 die Wolga­ufer nach Inspiration absuchte. Letztlich quartierte er sich hier drei lange Sommer in Folge ein und malte 200 Bilder, von denen einige heute in der Tretjakow-Galerie hängen. Sein vielleicht berühmtestes „Über der ewigen Ruhe“ entstand zwar später, eine Spur führt aber ebenfalls nach Pljoss zurück. Denn die Holzkirche auf dem Gemälde fand Lewitan auf dem dortigen Peter- und Paulsberg, der nach ihr benannt worden war (und heute seinen Namen trägt). Sie brannte 1903 ab und wurde 1982 durch eine andere Holzkirche aus der Region ersetzt.

Lewitan in Bronze vor dem Hintergrund der Wolga

Alexej Schewzow, zwischenzeitlich sogar mal Bürgermeister von Pljoss, wollte nie Massentourismus in seiner Wahlheimat. 2005 lockte er den Gouverneur von Iwanowo, Michail Men, in dieses damals noch recht ungeschliffene Juwel. 2008 kam der damalige Präsident Dmitri Medwedew mit einer Regierungsjacht, kehrte in Schewzows „Jacht-Club“ ein und fand überhaupt Gefallen an Pljoss. Das brachte viele Steine ins Rollen.

Eine neue Blütezeit

In der Folge flossen Millionen in den Ort, ein Festival wurde hier aus der Taufe gehoben, ein heruntergekommenes Landgut am Stadtrand verwandelte sich in eine Residenz, die als „Medwedews Datscha“ Schlagzeilen machte. Es wurde schick, in Pljoss eine Datscha zu mieten oder zu kaufen. Seitdem spannen die Schönen und Reichen aus Moskau am Wochenende in diesem Anti-Moskau aus. Nur sie können es sich auch leisten, in den malerischen Holzhäusern, innen mit allem Komfort ausgestattet, teils mehr als 1000 Euro pro Nacht zu zahlen. Das gemeine Volk kommt meist nur tagsüber zum Gucken.

Journalisten haben in ihren Artikeln schon alle möglichen Vergleiche bemüht, um Pljoss zu charakterisierien, auch den von der „Rubljowka an der Wolga“. Die Rubljowka ist eine teure Wohngegend vor den Toren von Moskau. Allerdings sind die Anwesen dort hinter hohen Mauern verschanzt. In Pljoss wohnen die „Datschniki“ mitten im Ort.

Verschlafene Winter

Im Sommer kann es gerade auf der Uferstraße mit ihren Kaufmannshäusern, Cafés und Restaurants auch mal ziemlich voll werden. In den Wintermonaten trifft man selbst im Ortskern oft kaum eine Menschenseele. Manche meinen, der ganz große Hype sei schon wieder vorbei. 2021 ist auch Jelena Magnenan, die legendäre Besitzerin des russisch-französischen Gästehauses „Tschastny Visit“, lange Jahre eine Institution in der Stadt, gegangen. Der Familienbetrieb, wo auch Medwedew gespeist haben soll, steht zum Verkauf.

Hotel und Restaurant: Das „Tschastny Visit“ war ein Markenzeichen von Pljoss.

Aber vielleicht schlägt umgekehrt gerade die Stunde von Pljoss. Hatte die klassische Zielgruppe früher Immobilien in Europa oder machte dort zumindest regelmäßig Urlaub, sind Reisen in den Westen derzeit kompliziert bis unmöglich.

Tino Künzel (Text + Fotos)

Anfahrt

Von Moskau aus eignet sich Pljoss für einen Tages- oder Wochenendausflug. Die regionale Hauptstadt Iwanowo ist am bequemsten und schnellsten mit den Lastotschka-Expresszügen zu erreichen. Ab Moskau verkehren sie viermal am Tag vom Kursker oder Ostbahnhof. Die Fahrtzeit beträgt 3:40 Stunden. Für einen Tagesausflug sind die Züge mit Abfahrt um 1.56 Uhr oder 7.07 Uhr erste Wahl. Die Ticketpreise beginnen bei umgerechnet ca. 12 Euro.

Von Iwanowo braucht der Bus noch einmal zwei Stunden bis nach Pljoss. Die Kosten entsprechen etwa vier Euro. Um bis zur Hälfte der Zeit zu sparen, empfiehlt sich ein Yandex-Taxi, das mit ungefähr 2000 Rubel zu Buche schlägt, weniger als 30 Euro.

An Übernachtungsmöglichkeiten in Pljoss besteht kein Mangel. Es kann allerdings problematisch sein, ein Zimmer für unter 50 Euro zu finden.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: