Kino statt Kommunismus: Wie ein Plattenbauviertel im falschen Film landete

Vor gut 40 Jahren haben sich Moskaus Stadtplaner wieder mal eine Platte gemacht. Herausgekommen ist Tschertanowo Nord, ein experimenteller Wohnbezirk 15 Kilometer südlich vom Kreml. Die sowjetische Moderne sollte Schule machen im ganzen Land. Doch bald darauf gab es keine Sowjetunion mehr, das Viertel blieb einmalig und damit auch unverwechselbar. Mit seinem ganz speziellen Kolorit ist es nach wie vor als Wohnadresse gefragt und darüber hinaus eine beliebte Filmkulisse.

Häuser wie Ozeandampfer und tiefergelegter Verkehr: Das sind nur zwei der Besonderheiten von Tschertanowo Nord. © Tino Künzel

Der erste Kontakt der Menschheit mit Außerirdischen fand im Winter 2017 am Mos­kauer Stadtrand statt, allerdings nur im Kino. Das war auch besser so, denn wirklich gut geht die Geschichte um ein Raumschiff, das in ein Plattenbauviertel crasht, nicht aus. „Pritjaschenije“ heißt die Zerstörungsorgie von Fjodor Bondartschuk, im Ausland lief sie als „Attraction“. Die Außenaufnahmen für den Film entstanden zu einem großen Teil im Wohngebiet Tschertanowo Nord, das Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre auf der „grünen Wiese“ erbaut wurde, aber sonstiger Moskauer Randbebauung nicht sehr ähnlich sieht. Jeweils mehrere der langgestreckten, an bestimmten Enden terrassenförmig absteigenden Wohnblöcke sind über einen „Knick“ miteinander verbunden. Ebenso betonlastige Zweckbauten vervollständigen das Bild. Man wollte eine „Stadt in der Stadt“ erschaffen, eine sowjetische Wohnvision, die sich heute eher brutal anfühlt, aber auch die Kühnheit von ehedem erahnen lässt und jedenfalls sehr cineastisch ist. Filmemacher wussten das schon lange vor Bondartschuk zu schätzen.

So wie in Tschertanowo Nord sollten die Sowjetbürger einmal im ganzen Land leben. Und das klang damals durchaus nicht wie eine Drohung: In der späten Sowjet­union stand schon nicht mehr die Ideologie im Vordergrund, sondern der Komfort: von der Tiefgarage bis zu den geräumigen Wohnungen (selbst die Einzimmerwohnung hat 40 Quadratmeter), die bis heute so begehrt wie teuer sind. Das Erdgeschoss ist nicht bewohnt, es sollte zu einem Treffpunkt der Hausbewohner werden  – eine Utopie wie so vieles. Heute stehen dort meist Topfpflanzen. Unterm Dach wurden Künstlerateliers angelegt, je zwei pro Treppenaufgang. Auch für den Durchgangsverkehr hatte man eine originelle Lösung: Er verläuft unterirdisch. Letztlich blieb nicht nur das geplante Einkaufszentrum unvollendet. Dort wurde vor Jahren ein 45-stöckiger Wohnklotz errichtet. Und das ist dann doch die mit Abstand größte Bausünde im Viertel.

Tino Künzel

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