Solschenizyns Erstlingswerk verfilmt

In Russland ist die Verfilmung von Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ angelaufen. Das Werk von Regisseur Gleb Panfilow entfernt sich weit von der Vorlage. Das macht den Streifen durchaus sehenswert und könnte der Auftakt für weitere Gulag-Filme sein.

Ausrücken zur Arbeit. Die märchenhafte Winterlandschaft ist in Wahrheit die Hölle auf Erden. (Foto: kinopoisk.ru)

Aus der Vogelperspektive bietet sich ein ruhiges Bild. Unberührte Natur bedeckt mit metertiefem Schnee, dazu minus 30 Grad. Russland, ein Wintermärchen, könnte man sagen. Doch unten auf der Erde regiert der Schrecken im Form eines Lagers des berüchtigten Gulags. Eingesperrt fernab der Zivilisation müssen Männer jahrelange (oft unberechtigte) Strafen verbüßen, unter schwersten Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Einer dieser Männer ist Iwan Denissowitsch Schuchow.

Als Alexander Solschenizyn 1962 seine Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ veröffentlichen konnte, glich dies einem Erdbeben. Zwar wussten die meisten Menschen in der Sowjetunion über das Gulag-System Bescheid. Doch der spätere Literaturnobelpreisträger packte den Schrecken der Lager erstmals in eine Erzählung. Wer Solchenizyns Werke gelesen hat, weiß, dass sie eine enorme Bedeutung für die russische Geschichte haben.

Niemand traute sich an Solschenizyns Werke

Trotzdem machten Regisseure bisher einen großen Bogen um Solschenizyns Literatur. Lediglich in Großbritannien wurde „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ in den 1960ern verfilmt. In Russland wagte sich Anfang der 2000er der bekannte Regisseur Gleb Panfilow als erster an die Werke Solschenizyns. 2006 erschien die zehnteilige Serie „Im ersten Kreis“ über ein Arbeitslager für Wissenschaftler und Ingenieure.
Im August feierte „Hundert Minuten im Leben des Iwan Denissowitsch“ beim Filmfestival in Locarno Premiere und läuft seit Kurzem auf russischen Leinwänden. Fast 50 Jahre nach dem Erscheinen der Erzählung und 15 Jahre nach der Serie wurde Solschenizyns Erzählung in Russland als Spielfilm umgesetzt.

Der späte Zeitpunkt mag Diskussionen über den russischen Umgang mit der Geschichte auslösen, liegt aber vor allem an Solschenizyn. Denn seine literarische Vorlage und vor allem der Schreibstil waren bisher das größte Hindernis für die Verfilmung. Das versteht jeder, der die Erzählung bereits in den Händen gehalten hat. Der Filmkritiker Anton Dolin vergleicht den „Iwan Denissowitsch“ mit James Joyces Meisterwerk „Ulysses“. Beide seien so dicht geschrieben, dass eine Verfilmung schwer ist, so Dolin. Hinzu kommt, dass es in der Erzählung nur wenige Ereignisse und Handlung gibt. Wie kann man daraus einen Spielfilm machen?

Panfilow umschifft diese Untiefen, indem er „einen eigenen Iwan Denissowitsch“ erschafft. Das erklärte der mittlerweile 85-Jährige dem „Kommersant“. Nachdem er die Erzählung noch einmal gelesen hatte, verstand er, dass das Drehbuch komplett neu geschrieben werden muss. Und Solschenizyns Witwe Natalja erlaubte ihm, der den Schriftsteller auch persönlich getroffen hatte, Episoden hinzuzufügen und Handlungsstränge umzuschreiben. So macht die Vorlage nur die Hälfte des Films aus.
Die größte Entfremdung widerfährt Iwan Denissowitsch selbst. Panfilow macht aus ihm einen Städter, einen typischen Vertreter des ingenieurtechnischen Personals, während Solschenizyns Held ein typischer einfacher Dorfbewohner war, der als Mechaniker und Fahrer einer Maschinen-Traktoren-Station gearbeitet hatte.

Aus einem Bauern wird ein Arbeiter

Panfilow bestand darauf, dass Iwan Denissowitsch ein Arbeiter sein soll. Und ein Kriegsheld. Im Film hat Iwan Denissowitsch eine Medaille für die Verteidigung Moskaus und bringt in einer Szene draufgängerisch deutsche Panzer zur Strecke. Auch an der legendären Parade zur Oktoberrevolution am 7. November 1941 nimmt er teil. Freilich bewahrt ihn dies nicht, als entflohener Kriegsgefangener von einem deutschen in ein sowjetisches Lager gesteckt zu werden. Die Aufmerksamt, die der Zweite Weltkrieg bei Panfilow genießt, wirkt deplatziert.

Es ist aber auch ein Tribut an den russischen Film, der in den vergangenen Jahren (die „Hundert Minuten“ sollten eigentlich 2018 erscheinen) nicht ohne das Thema auskommt. Vor allem nicht, wenn der Staat die Produktion finanziert. Panfilows Handlung setzt erst zehn Jahre nach der Inhaftierung 1951 ein. Iwan Denissowitsch hat nur noch zehn Tage abzusitzen, dann ist er ein freier Mann. Dementsprechend ist er eine Figur voller Hoffnung. Zumal Iwan Denissowtisch erfährt, dass er Großvater wird. Es kommt eine positive Stimmung auf, die sich Solschenizyn niemals erlaubt hätte.

Auftakt für einen neuen Lager-Film?

Das Ende des Films fällt fast schon in Hollywood-Manier aus. Iwan Denissowitsch ist mit seinen beiden Töchtern und dem Enkel lächelnd zu sehen (im Original gibt es keine Familie). Er trägt seinen Sonntagsanzug und eine Krawatte. Die Familie lässt ihr gemeinsames erstes Foto machen. Panfilow scheint hier ein wenig zu übertreiben, das Happy End wirkt naiv und ausgedacht. Zumal Panfilow seine Helden gerne sterben lässt. Bei Iwan Denissowitsch macht er aber eine Ausnahme. Denn er hat es in den Augen des Regisseurs verdient zu leben.

„Hundert Minuten im Leben des Iwan Denissowitsch“ hat durchaus Unzulänglichkeiten. Panfilows Eingriffe in die Romanvorlage werden Puristen und Historikern wenig gefallen. Ohne diese aber wäre der Film zu einer Reality-Show verkommen, wie „Lenta“ anmerkt. Und wie bereits das Werk Solschenizyns in den 1960ern könnte die Verfilmung der Auftakt für Regisseure sein, sich weiter mit dem Gulag auseinanderzusetzen. Vor allem Warlam Schamalows hervorragend geschriebene „Geschichten von der Kolyma“ bieten genügend beeindruckenden und bedrückenden Stoff für das Kino.

Daniel Säwert

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