In der Warteschleife: Begegnungen mit dem analogen Deutschland

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Integration in Deutschland führt auch über diese gelben Kästen. (Foto: Tino Künzel)

Die erste Aufregung des Umzugs ist dem Alltag der Behördengänge gewichen. Mit einem Laufzettel in der Hand, der auf vier Seiten fast 40 Namen diverser Anlaufstellen umfasst, bei denen eine Registrierung erforderlich ist, habe ich die Ärmel hochgekrempelt und mich mit den Realitäten vor Ort vertraut zu machen begonnen. Das ist ungefähr so, wie noch einmal neu geboren zu werden und sich quasi von null in die Welt um sich herum vorzutasten.

Streik bei der Post, Termin verpasst

Steuer-ID, Krankenversicherung, Bankkonto und so weiter sind obligatorisch für die Existenz in dieser Welt. Sich solche Attribute anzueignen, braucht seine Zeit, was unter anderem daran liegt, dass alles auf dem Postweg erledigt werden muss. Für jemanden, der bisher die meisten Vorgänge in elektronischer Form bewältigen konnte und ehrlich gesagt die Post schon ein wenig aus dem Auge verloren hatte, war das erst mal eine Umstellung. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Und auch ich bin es nun schon gewohnt, mich in Postfilialen herumzutreiben und eine Vielzahl verschiedenartiger Briefe zu schreiben.

Natürlich machten sich einige Komplikationen relativ schnell bemerkbar. Eine ganze Woche streikten die Postmitarbeiter, weshalb mich der Brief aus dem Jobcenter mit der Nachricht, dass ich dort zu einem Treffen erscheinen müsse, erst zwei Tage nach dem angesetzten Termin erreichte. Ich musste einige Geduld aufbringen und hing eine halbe Stunde in der Warteschleife („Legen Sie nicht auf“), bis ich mitteilen konnte, dass es mir leider nicht möglich ist, den Termin wahrzunehmen: Zu Zeitreisen bin ich dann doch nicht in der Lage. Ich bekam zur Antwort, dass ein Beschwerdebrief an mich wegen des verpassten Treffens schon unterwegs sei und ich darin nachdrücklich aufgefordert werde, mich schriftlich zu erklären. Ein neuer Termin wurde vereinbart. Das wäre also geklärt, immerhin.

Schulpflicht ja, Schulbesuch nein

Der Dialog mit dem Schulamt gestaltete sich deutlich schwieriger. Meine Kinder hätten hier in Berlin schon seit über einem Monat wieder zur Schule gehen sollen, aber die Willkommensklasse ist voll.

Mich hat das einigermaßen erstaunt, denn schließlich gilt in Deutschland die Schulpflicht. Wenn Kinder dem Unterricht fernbleiben, dann ist das ein Gesetzesverstoß, sowohl von Seiten der Eltern als auch der Beamten, die den Zugang zu Bildung gewährleisten müssen. Also wieder eine halbe Stunde „Legen Sie nicht auf“, um zu erfahren, dass in der Schule keine Plätze frei sind. Vielleicht tut sich in einem Monat etwas, vielleicht in zwei, aber Genaueres weiß man nicht. Vermutlich werden wir die Stufen der bürokratischen Leiter weiter nach oben klettern müssen.

Ein Konto bei der Bank zu eröffnen, hat sich als interessante Erfahrung erwiesen. Die Postbank und die Deutsche Post teilen sich ein und dieselben Filialen. Wer Bankgeschäfte tätigen will, muss sich deshalb mit großer Wahrscheinlichkeit in eine gemeinsame Schlange einreihen, die ungefähr bis zur Eingangstür reicht. Briefsendungen entgegennehmen, Briefmarken verkaufen, aber auch Konten eröffnen – darum kümmern sich dieselben Leute.

Der lange Weg zur Bankkarte

Eine halbe Stunde Wartezeit und ich habe es bis zum Schalter geschafft. Noch eine halbe Stunde und das Konto ist eingerichtet. Mit dem Hinterkopf kann ich förmlich spüren, wie mich diejenigen in der Schlange verfluchen, die einfach nur schnell einen Brief abgeben wollten.

Bliebe noch die Zustellung der Karte der Bank. Sie soll innerhalb von zwei Wochen erfolgen. Die Geheimzahl kommt parallel dazu etwa in derselben Zeit und – raten Sie mal wie! – natürlich ebenfalls per Post. Mit ein bisschen Glück geht es auch schneller. Aber ich hatte keins. Zwar war die Karte schon nach zehn Tagen da, aber die unselige Geheimzahl irgendwo bei der streikenden Post verschwunden. Also ein weiterer Gang zur Bank, eine halbe Stunde Schlange stehen, eine neue Geheimzahl beantragen und bingo! Zehn Tage später bin ich glücklicher Besitzer einer Bankkarte mit PIN.

Online und offline

Nerven kostete mich auch der Abschluss der Krankenversicherung. Naiverweise glaubte ich zunächst, das ließe sich online bewerkstelligen. Aber nach der Beantragung im Internet ging es wie gehabt per Post und Warteschleife am Telefon weiter. Letztlich schnappte ich mir den ganzen Stapel unterschiedlichster Dokumente und fuhr ins Büro der Versicherungsgesellschaft. Dort bat ich darum, alles, was ich mitgebracht hatte, entgegenzunehmen, selbst das, was noch gar nicht angefordert worden war, aber vielleicht im weiteren Verlauf noch benötigt werden könnte. Ein unendlich netter Mitarbeiter erhörte meine Bitte, füllte alle Anträge aus und verabschiedete mich mit den Worten, die Krankenversichertenkarten würden mir binnen einer Woche per Post zugehen. Ich hoffe sehr, dass er Recht behält. Und dass diesmal auch kein Streik dazwischenkommt.

Im Verlaufe eines Monats habe ich in Berlin Vertreter des Jobcenters, der Rentenversicherung, des Schulamts und des Finanzamts, Mitarbeiter von Post- und Bankfilialen sowie von Versicherungsgesellschaften kennengelernt. Aber das ist nichts im Vergleich dazu, was mir noch bevorsteht, was ich lernen muss, worüber ich staunen oder mich vielleicht auch ärgern werde. So habe ich bisher mit der App der Postbank zu kämpfen, weil das System des Datenschutzes vieles erschwert. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll.

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