25 Quadratmeter Glück: Als Spätaussiedlerin in Deutschland

Von der Wolga an die Spree: Die Russlanddeutsche Uljana Iljina (48), Lehrerin, Übersetzerin und Texterin, ist als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. In ihrer MDZ-Kolumne „Deutschland-Tagebuch“ schreibt sie aus Berlin darüber, wie sie ihre neue Heimat – die Heimat ihrer Vorfahren – erlebt.

Berlin. Wie groß wohl der Anteil derjenigen ist, die hier einen Neuanfang gewagt haben? (Foto: Tino Künzel)

Als Spätaussiedlerin nach Deutschland zu gehen, ist eine relativ überschaubare Angelegenheit. Natürlich bringt jeder Umzug seine Schwierigkeiten mit sich, daher auch die Redewendung „Lieber einmal ausbrennen als zweimal umziehen“. Aber zumindest ist in unserem Fall der Weg vorgezeichnet und festgetreten von Abertausenden Deutschstämmigen aus dem postsowjetischen Raum. Jeder Schritt ist auf unzähligen offiziellen und inoffiziellen Internetseiten in jedweder verbalen oder visuellen Form dokumentiert.

Wie so viele andere vor mir, habe ich den ersten Teil dieses Wegs hinter mich gebracht. Wenn man die lange Vorgeschichte ausklammert, dann sah das so aus: Nach einer Tagesfahrt mit dem Zug nach Moskau, acht Stunden Flug von Moskau über Belgrad nach Frankfurt am Main, einem Monat im Quarantänehotel und einer Woche im Grenzdurchgangslager Friedland bin ich mit meinen beiden Töchtern nun in einem Übergangsheim für Flüchtlinge und Spätaussiedler in Berlin gelandet.

Die große Frage nach dem Wohin

Über die Verteilung von Neuankömmlingen auf die einzelnen Bundesländer sind schon Tausende von Geschichten erzählt worden. Eine durchgängige Logik bei dem Verfahren in Friedland lässt sich nicht feststellen. Alles hängt vom Vorhandensein von Verwandten und von den Quoten in den jeweiligen Bundesländern, von der Laune und dem Charakter des Beraters/der Beraterin sowie von der Fähigkeit der zu Verteilenden, zu bitten und zu überzeugen, ab. Bei uns hat wohl Letzteres den Ausschlag gegeben, wobei ich unsere Beraterin nicht unerwähnt lassen möchte: Sie hat einen tollen Charakter und war immer gut drauf.

Als nicht unbedingt gründlicher und in gewisser Weise sogar unbekümmerter Mensch hatte ich mich im Vorfeld nicht auf ein einziges Wunschziel festgelegt. Stattdessen zählte ich gleich vier Bundesländer auf, in denen meine Freunde und Verwandten leben. Irgendetwas davon würde ja wohl klappen. Bayern und Baden-Württemberg wurden sofort gnadenlos und kategorisch ausgeschlossen. Wer keine engen Verwandten dort hat, braucht gar nicht erst darauf zu hoffen, ausgerechnet den wohlhabendsten Bundesländern zugewiesen zu werden. Blieben Rheinland-Pfalz und Berlin. Die Sterne standen günstig und ich kam nach Berlin – eine Stadt, in der meine jüngere Schwester und Freunde von mir leben, in der ich schon viele Male war und die mit ihrem Geräuschpegel, ihrer Betriebsamkeit und ihren vielen Gesichtern Moskau ähnelt, wo ich 18 Jahre gelebt habe.

Berlin und gemischte Gefühle

Doch während wir im Zug nach Berlin saßen, blickte ich aus dem Fenster und jammerte innerlich ein wenig vor mich hin. Was ich bis dahin an Informationen über Heime für Ausländer hatte, verhieß nichts Gutes: überfüllte Räume, schmutzige Toiletten, ramponierte Möbel.

Ich habe lange Jahre selbst in Wohnheimen oder Mietwohnungen zugebracht, aber allein. Nun waren zwei jugendliche Töchter an meiner Seite, die in ihrem Leben noch nie von mir getrennt gewohnt hatten, geschweige denn in einem Wohnheim. Sie freuten sich, dass sie künftig in einer Großstadt leben würden. Noch in Friedland hatten sie in unmissverständlichem Ton erklärt, dass bloß niemandem einfallen solle, uns auf „irgendein Dorf“ zu schicken. Mich haben sie damit in grenzenlose Verlegenheit gegenüber unserer supernetten Beraterin gestürzt, die zumindest gespürt haben dürfte, was da auf Russisch gesagt worden war.

Kurzum, die Kinder waren glücklich, aufgeregt, voller Vorfreude. Ich dagegen sah vor meinem geistigen Auge zerschossene Sanitäranlagen und Kakerlaken, die an der Decke ein Tänzchen aufführten.

Schöner Wohnen in der WG

Vielleicht habe ich ja irgendwo ganz nebenbei dem Teufel meine Seele verkauft. Jedenfalls hatten wir nicht nur mit der Zuweisung nach Berlin Glück, sondern jetzt auch mit dem Übergangswohnheim in Marienfelde. Ich hatte ein paar Stunden vor unserer Ankunft aus dem Zug angerufen, damit man dort Bescheid weiß. Und, oh Wunder, wir wurden von Olga in Empfang genommen, einer Sozialarbeiterin, die für die Zeit unseres Aufenthalts hier auch unsere Kuratorin sein wird.

Das Übergangswohnheim im Süden von Berlin sollte eigentlich schon abgerissen werden. Dann kamen die Ukraine-Flüchtlinge. (Foto: Uljana Iljina)

Nach Übergabe aller Dokumente führte Olga uns zu unserem Zimmer. Da sind mir fast die Tränen gekommen. 25 Quadratmeter reinen Glücks! Balkon, eine WG mit drei Zimmern und eigener Küche, Badezimmer und Abstellraum sowie einem separaten Eingang. Solche WGs gibt es im gesamten Haus nur zwei. Der Balkon geht allerdings direkt zum Haupteingang hinaus und wenn ich ihn betrete, fühle ich mich schuldig gegenüber den anderen Hausbewohnern – die meisten davon sind Flüchtlinge aus der Ukraine – für unsere völlig unverdienten Gemächer.

Zeit für die Behördengänge

Unser neuer herrschaftlicher Wohnsitz wartet mit drei Betten, einem Tisch, einem Schrank, einem Nachtschränkchen und einem Kühlschrank auf. Außerdem wurden uns Bettwäsche, Tassen in unterschiedlichen Größen, Gabeln, Teller, ein Topf und drei Rollen Toilettenpapier zur Verfügung gestellt.

Das ist nun also unsere Unterkunft für die nächsten Monate, bis alle nötigen Behördengänge abgewickelt sind und eine Wohnung für uns gefunden ist. Ich überlasse meine Töchter ihren Hochgefühlen und begebe mich zum ersten Termin mit unserer Kuratorin, bei dem Anträge ausgefüllt werden müssen und ich die Unterlagen für die Anmeldung beim Einwohnermeldeamt bekomme.

Übrigens hatte ein Freund von mir, der schon 20 Jahre in Berlin lebt, dort bereits einen Termin für uns organisiert, oder wie er das auf Russisch nannte, ergattert. Und so können wir bereits am Tag nach unserer Ankunft beim Bürgeramt die Anmeldung erledigen und uns vorläufige Pässe ausstellen lassen. Selbstverständlich ist das nicht. Soweit ich verstehe, muss man schnell sein, um sich einen Termin zu sichern, solange welche vergeben werden. Kenner wissen genau, welche Seiten sie dafür zu welchen Zeiten im Auge behalten müssen. Das scheint eine Art Volkssport zu sein, eine Lotterie, mit der ich bisher noch nicht in Berührung gekommen bin und die ich mir erst noch erschließen muss. Dasselbe gilt für den Umgang mit dem mobilen Internet, das die Eigenschaft hat, innerhalb weniger Tage aufgebraucht zu sein. Aber das ist eine andere Geschichte, die ich ein andermal erzählen möchte.

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