„Liebes Russland“: Ein Brief aus Deutschland an die alte Heimat

Uljana Iljina hat ihr gesamtes Berufsleben mit Sprache gearbeitet, sei es als Lehrerin, Übersetzerin oder im PR-Bereich. Doch die Entwicklung in Russland hat sie zuletzt oft sprachlos gemacht. Nun ist die 48-Jährige als Spätaussiedlerin nach Deutschland gekommen. Und während sie mit ihrer Familie in der Quarantäne auf die Weiterreise ins Durchgangslager Friedland wartete, hat sie auf Bitte der MDZ einen Brief an ihre alte Heimat geschrieben.

Nach der Ankunft in Deutschland: Uljana Iljina (oben rechts) mit ihrer Mutter und ihren zwei Töchtern (Foto: Privat)

Liebes Russland, ich schreibe dir aus Deutschland. Seit drei Wochen bin ich jetzt zusammen mit meiner Mutter und meinen beiden Töchtern hier. Deutschland kenne ich von früheren Reisen, die berufliche Gründe hatten oder bei denen ich Freunde und Verwandte besucht habe. Doch nun sind wir gekommen, um zu bleiben. Als Spätaussiedler.

Viele Verwandte sind schon früher weg

Meine deutschen Ahnen stammten vermutlich aus Schwaben. Im 18. Jahrhundert folgten sie der Einladung von Katharina der Großen und ließen sich an der Wolga nieder. Von den Nachfahren dieser Siedler sind die meisten nach dem Ende der Sowjetunion in ihre „historische Heimat“ zurückgekehrt. In Deutschland leben schon seit Jahrzehnten auch meine Geschwister, Tanten und Onkel, Freunde und früheren Mitschüler. Wir waren so ziemlich die letzten aus unserer Familie, die es bisher noch in Russland gehalten hat.

Von der Verwandtschaft haben wir schon lange gehört: Kommt nach, dann sind wir alle wieder zusammen. Aber das sagt sich so einfach. Wer geht schon leichten Herzens weg aus dem Land, in dem man sein gesamtes Leben verbracht hat, in dem die Kinder aufgewachsen sind, in dem man gearbeitet hat und mit dem man zutiefst verbunden ist? Wir haben uns zu dieser Entscheidung über Jahre nicht durchringen können. Doch gleichzeitig wurde in Russland alles immer schwieriger.

Kindheit und Studium in Kasachstan

Meinem Großvater verdanke ich, dass ich in Kasachstan geboren bin. 1939 wurde er von der Wolga zur Armee eingezogen, kam 1941 an die Front und noch im selben Jahr als Angehöriger der deutschen Minderheit zur Arbeitsarmee. Er musste im Moskauer Umland im Bergwerk schuften und durfte sich erst 1955 einen neuen Wohnort suchen. Über den Altai ging es nach Kasachstan, wo ich 1974 in der Stadt Karaganda das Licht der Welt erblickte. An der dortigen Pädagogischen Fachschule bin ich später, als wir schon wieder an der Wolga wohnten, auch zur Deutschlehrerin geworden.

In Kasachstan habe ich den Untergang der Sowjetunion miterlebt und die anschließende erste Welle der Spätaussiedler. Zu den Tausenden, die damals nach Deutschland auswanderten, gehörten auch Freundinnen von mir aus der Fachschule. Ihre Heimatorte in Kasachstan waren kleine Dörfer mit ganz überwiegend deutschstämmiger Bevölkerung. Sie sprachen schlecht Russisch. Und ihr Deutsch war stark vom Dialekt geprägt. Sie hatten deutsche Namen, waren Lutheraner, Mennoniten, Adventisten. Auf sie traf der Begriff von der historischen Heimat im Besonderen zu. Für die Mehrzahl derer, die später nach Deutschland übersiedelten und das heute tun (so wie wir), standen eher wirtschaftliche oder auch politische Motive im Vordergrund. Was im Übrigen nichts an ihrem Deutschsein ändert, an der kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit.

Neue Massenauswanderung

In diesem Jahr hat nun eine andere Massenauswanderung aus Russland weite Kreise gezogen. Die „militärische Sonderoperation“ und die Teilmobilmachung berühren auf die eine oder andere Art jede Familie. Damit konfrontiert wird man praktisch auf Schritt und Tritt, das schwirrt durch die Luft und tönt von den Fernsehbildschirmen.

Uns hat es beispielsweise in Form der zu Beginn des Schuljahres eingeführten Klassenstunden unter der Bezeichnung „Gespräche über Wichtiges“, mittels der Briefe, die die Kinder an russische Soldaten schreiben sollten, durch Wohltätigkeitsaktionen für die Bedürfnisse der Armee und Konzerte mit Z-Symbolik erreicht. Wir haben nach Möglichkeit Abstand zu solchen Initiativen gehalten, was ohne unsere Ausreise wohl unausweichlich zu Konflikten geführt hätte. Die Anspannung ist jedenfalls ständig gewachsen.

Was die Kollegen sagen

Unter meinen Arbeitskollegen habe ich mich zu diesem Thema ein einziges Mal geäußert. Von diesen gutmütigen, hilfsbereiten, anständigen Menschen, mit denen ich nie Streit hatte, musste ich mir daraufhin anhören: „Dann verzieh dich doch dahin, wo du es besser zu haben glaubst. Du wirst ja sehen, wie man dich dort für die russische Sprache niedermacht.“

Ohne jegliches Bedauern hat man auch den Exodus an namhaften russischen Kulturschaffenden hingenommen. Von Leuten, die noch gestern geschätzt und gefeiert wurden. „Sollen sie doch gehen“, heißt das heute und „Wir kommen auch ohne sie aus“.   

Einmal bin ich im Bus mit einer Rentnerin ins Gespräch gekommen. Die Frau war zwar schon in hohem Alter, machte aber einen vitalen und lebenslustigen Eindruck. Unterwegs erzählte sie mir vom Großen Vaterländischen Krieg, als sie verwundet wurde. Von ihren Auszeichnungen. Sie lächelte dabei. Doch plötzlich veränderte sich ihr vorher so heiterer Gesichtsausdruck, in dem keine Spur von Bitterkeit und Schmerz gewesen war. Sie zog die Augenbrauen zusammen und sagte mit demselben Hass in der Stimme wie meine Kollegen, der ukrainische Feind müsse bis zum letzten Nazi vernichtet werden. Ganz ohne Umschweife und ohne Übergang.

Aus diesem Land bin ich nun also Anfang Dezember ausgereist. Aus meinem Land. Meinem geliebten Russland. Von dem ich mich nicht abwenden werde, egal was passiert. Ich habe keine Brücken abgebrochen, keine Freundschaften weggeworfen. Und ich weiß, dass dort viele genauso denken und fühlen wie ich.

Liebes Russland, wir treffen uns wieder.

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