Kotlas, seine Eisenbahnbrücke und die Deutschen

An Kotlas ließe sich die gesamte Geschichte der Sowjetunion erzählen. Und das nicht nur, weil die nordrussische Stadt so alt ist wie die Oktoberrevolution. Hier wurden schier übermenschliche Leistungen unter unmenschlichen Bedingungen vollbracht. Auch Russlanddeutsche waren daran zu Tausenden beteiligt. Noch heute gibt es eine deutsche Diaspora in Kotlas.

Mit Lenin-Denkmal davor: Der Bahnhof von Kotlas, wo Züge Richtung Moskau, Workuta und Kirow abfahren. (Foto: Tino Künzel)

Am 24. Dezember wird sich Galina Petrowa (75) ein schönes Kleid anziehen und eine selbstgebastelte Brosche mit einem Weihnachtsstern daran befestigen. Um 11 Uhr trifft sie sich mit anderen im Russischen-Deutschen Begegnungszentrum auf der Wolodarski-Straße von Kotlas. Man wird deutsche Weihnachtslieder anstimmen, tanzen, Glühwein trinken und sich allmählich der Heiligen Nacht nähern, wie das an diesem Tag nur wenige in ihrer Stadt tun.

Wegen einer kalendarischen Kollision zwischen dem weltlichen und orthodoxen Russland wird Weihnachten in den meisten Familien zwei Wochen später als anderswo auf der Welt gefeiert. Aber Galina und ihre Mitstreiter halten sich wie selbstverständlich an die deutschen Traditionen. Denn die frühere Lehrerin ist ja selbst eine Deutsche. Sonst wäre sie heute vermutlich nicht hier im russischen Norden, wo sie ihr gesamtes Leben verbracht hat und nun schon seit 20 Jahren das Begegnungszentrum leitet.

Verbannungsort für politisch Verfolgte

Als es bis Heiligabend noch einige Tage sind, kauft Galina einen Strohbesen und nimmt den Reporter aus Moskau mit zum Gedenkfriedhof im Ortsteil Makaricha. Sie fegt den Schnee von den Grabtafeln, damit die Inschriften zu lesen sind. Zum Beispiel diese: „Hier ruhen Bauern, die Opfer der Kollektivierung auf dem Land geworden sind, Häftlinge des Durchgangslagers Makaricha in den Jahren 1929 bis 1933.“ In dem Wäldchen wurden Angehörige aller möglichen Nationalitäten beerdigt oder eher verscharrt, darunter auch viele Russlanddeutsche.

Kotlas, heute eine Stadt mit 56.000 Einwohnern in der Region Archangelsk, war für politisch Verfolgte in den 1930er und 1940er Jahren einer der berüchtigsten Namen auf der Landkarte. Ohne Rücksicht auf Verluste wurden sie hier, 800 Kilometer nordöstlich von Moskau, in der Forstwirtschaft und beim Eisenbahnbau verheizt. Mit der Schneeschmelze im Frühjahr würden bis heute Knochen an die Oberfläche gespült, sagt Galina. Sie stammt aus einer Familie, die selbst unter der „Entkulakisierung“ zu leiden hatte, dem sowjetischen Kampf gegen die fähigsten und daher vergleichsweise wohlhabenden Bauern.

Als Erstes kamen die „Kulaken“

Unter Stalin wurden sie als „Kulaken“ und Feinde der neuen Ordnung geschmäht, enteignet und mit ihren Familien zur Zwangsarbeit in entlegene Landstriche verbannt. So kam auch Galinas deutscher Vater, Paul Racko, 1930 als 13-Jähriger von der Wolga nach Kotlas.

Das Land verlangte damals nach Holz. Die geplante Industrialisierung war unmöglich ohne moderne Maschinen und es zeichnete sich ein neuer Krieg am Horizont ab, für den die Sowjetunion nicht gerüstet war. Devisen mussten her. Die geradezu endlosen und unberührten Wälder jenseits der großen nordrussischen Ströme, der Nördlichen Dwina, Wytschegda und Suchona, sollten zum Standort für Lager und Sondersiedlungen werden, wo Holz gefällt, verarbeitet und verschifft werden würde, um es schließlich von Archangelsk aus in den Westen zu exportieren.

Als 1929 und 1930 etwa 55.000  „Kulaken“-Familien in Kotlas eintrafen, da gab es nicht einmal Behausungen für sie. Die lokalen Behörden hätten von nichts gewusst, sagt der Historiker Sergej Gladkich vom Stadtmuseum. „Aus wirtschaftlicher Sicht kann man die Motive für dieses Unterfangen ja noch nachvollziehen, wenn auch nicht aus menschlicher: Es hatte nichts Menschliches an sich. Aber auch die Umsetzung erfolgte eben auf eine fürchterliche Art und Weise.“ Kälte, Hunger und Krankheiten hätten zu einer extrem hohen Sterblichkeit geführt.

Bahnanschluss im 19. Jahrhundert

Dass man diese Unglücklichen überhaupt nach Kotlas verfrachten konnte, hatte die Sowjetmacht einem Deutschen zu verdanken. Sergej Witte, Finanzminister und später Ministerpräsident unter dem letzten Zaren Nikolai II., gehörte die Idee, eine Eisenbahnlinie von Perm über Kirow (damals noch Wjatka) nach Kotlas zu verlegen. In Zeiten eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs, der nicht zuletzt auch Witte zugeschrieben wird, sollten damit die bis dahin voneinander isolierten Gebiete an der Wolga und der Nördlichen Dwina nebst ihrer Nebenflüsse verbunden werden. Gleichzeitig wuchsen auch Sibirien, der Ural und Nordwestrussland näher zusammen.

Die Bahnstrecke wurde in nur vier Jahren errichtet, zwischen 1895 und 1899. Sie sorgte dafür, dass Güter aus Sibirien in Kotlas auf Dampfschiffe verladen und nach Archangelsk transportiert werden konnten. Ein wirtschaftlich weitgehend unbedeutender Ort wurde fast schon auf einen Schlag zu einem Knotenpunkt, der sogar traditionsreichen Städten in der Umgebung wie Weliki Ustjug und Solwytschegodsk den Rang ablief. Wo der Ackerbau ein Jahrtausend lang den Broterwerb einer dünn besiedelten Region dominiert hatte, wurden fortan ganz andere Räder in Bewegung gesetzt.

Und noch eine Bahnlinie

Die Sowjetunion machte Kotlas zu einer Lokomotive der Industrialisierung. Das ist durchaus wörtlich zu verstehen: Beim Ausbau des Schienennetzes kam der Stadt eine geradezu zentrale Rolle zu. Als Mitte der 1930er Jahre in Workuta am nördlichen Ende des Urals gewaltige Kohlevorkommen entdeckt wurden, beschloss man in Moskau den Bau einer Bahnstrecke. Von Kotlas nach Workuta in östlicher und von Kotlas nach Konoscha in westlicher Richtung – mit Anschluss an die Linie Moskau-Archangelsk – würde sie 1500 Kilometer betragen.

In der an Schrecken reichen Geschichte des Gulag war das eine der opferreichsten Baustellen. 1940 wurde befohlen, sie in kürzester Zeit abzuschließen. Nach Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges 1941 galt das sogar als überlebenswichtig: Die Kohle aus Workuta wurde gebraucht, um den Feind zurückzuschlagen. Dass ab dem Sommer 1942 Züge zwischen den Endpunkten rollten, gilt bis heute als wichtiger Beitrag zum späteren Sieg.

Eine Höchstleistung und ihr Preis

Ein Schlüsselobjekt dabei war die Eisenbahnbrücke von Kotlas über die Nördliche Dwina. Fast einen Kilometer lang ist sie, Denkmal einer unvorstellbaren Kraftanstrengung. Zumal die schwersten Arbeiten auf den härtesten ersten Kriegswinter entfielen. Wie viele Arbeitskräfte dabei eingesetzt wurden, weiß niemand so genau, die Archive sind unter Verschluss. Historiker Gladkich spricht von „bis zu 3000 Toten“, die zu beklagen gewesen wären. Andere Quellen nennen noch viel höhere Zahlen.

Fakt ist, dass ein Großteil der Brückenbauer Russlanddeutsche waren. Man hatte sie inzwischen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten nach Sibirien und Kasachstan deportiert und dort zur sogenannten Arbeitsarmee (Trudarmija) eingezogen. Damit schwappte die nächste Welle an russlanddeutschen Zwangsarbeitern nach Kotlas. Heute mache sich von den Zugpassieren kaum jemand Gedanken, wie die Eisenbahnbrücke wohl entstanden sei, sagt Gladkich und findet, man könne bei der Fahrt ruhig der großartigen Leistung der Bauarbeiter gedenken. Bei Führungen muss er immer wieder mit dem Gerücht aufräumen, die Brücke hätten deutsche Kriegsgefangene gebaut. Auch sie gab es in Kotlas, allerdings erst 1944 und nicht für lange.

Ein Palast für eine Brücke

Als die Brücke in Betrieb genommen wurde, war sie noch weitgehend aus Holz. Das konnte erst nach und nach durch Metall ersetzt werden. Welchen Stellenwert das Bauvorhaben besaß, zeigt sich auch daran, dass letztlich der beste Stahl zur Verfügung stand, den die Sowjetunion zu bieten hatte: Er sollte beim „Palast der Sowjets“ in Moskau verbaut werden, das als höchstes Gebäude der Welt geplant war.

Freud und Leid liegen bei der beendruckenden Eisenbahnbrücke von Kotlas eng beieinander. (Foto: Screenshot www.youtube.com/watch?app=desktop&v=abpdRe6MEXk)

Dort, wo einmal die gesprengte Christ-Erlöser-Kathedrale gestanden hatte, begann die Errichtung dieses sowjetischen Wolkenkratzers Ende der 1930er Jahre. Doch nach dem deutschen Überfall gab es dann andere Prioritäten. Aus dem Stahl der Metallkonstruktion wurden nun Brückenträger von maximaler Festigkeit, darunter in Kotlas. Das verwendete Material war qualitativ so hochwertig, dass die dortige Brücke bis heute kein einziges Mal grundlegend saniert werden musste.   

Erst nach Deutschland, dann nach Kotlas

Über sie langten im Januar 1946 noch mehr Deutsche mit dem Zug in Kotlas an. Auch Josef Fischer (91) und Nikolai Jung (83) waren darunter. Sie stammen beide aus demselben Dorf bei Odessa in der Ukraine. Als die Wehrmacht 1943 von dort abzog, mussten die ethnischen Deutschen mit nach Deutschland. Nach Kriegsende ging es zurück in die Sowjetunion, aber nicht in die alte Heimat, sondern nach Kotlas. Dort haben die beiden Deutschen bis zur Rente bei der riesigen Lenin-Werft gearbeitet, so wie 90 Prozent der Einwohner des Randbezirks Limenda.

Nikolai Jung (links) und Josef Fischer kamen unfreiwillig nach Kotlas und blieben freiwillig. (Foto: Tino Künzel)

Dem Großbetrieb ist der Wechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft nicht bekommen. Heute ist davon nicht viel mehr als das stattliche Kulturhaus übrig, ein Fixpunkt im Viertel. Nikolai packt dort noch immer mit an. Er braucht Leute um sich, will sich nützlich machen und „in Bewegung bleiben“.

Viele Deutsche blieben

Als sich die Verhältnisse in der Sowjetunion nach dem Tod Stalins 1953 änderten, öffneten sich auch die Lager und Sondersiedlungen in und um Kotlas. „Wir hatten hier beispielsweise auch Polen und Esten, aber die sind aus der Verbannung in ihre Heimat zurückgekehrt“, sagt Sergej Gladkich. Die Deutschen dagegen hatten keine Heimat mehr. Ihre 1941 aufgelöste Wolgaautonomie wurde nicht restituiert, weder zu Sowjetzeiten noch danach.

Und so blieben viele in Kotlas, das ihnen trotz der dunklen Kapitel seiner Vergangenheit zu einer zweiten Heimat wurde. Noch heute sind deutsche Namen in der Stadt keine Seltenheit. Und die Deutschen sind durchaus stolz auf das, was sie zum Wohle von Kotlas geleistet haben. Galina, Nikolai, Josef – sie klagen nicht und wollen auch nicht woanders sein.

Galina Petrowa, die in einer Sondersiedlung weiter südlich aufwuchs, kann nur dann richtig sauer werden, wenn sie Geschichtsvergessenheit wittert. Als vor ein paar Jahren überall in Kotlas Art-Objekte mit blechernen Katern auftauchten, weil „Kot“ auf Russisch nun mal der Kater ist, da fand sie das sehr unpassend, nach allem, was passiert ist. Doch an ihrem Lokalpatriotismus ändert das nichts. Nun freut sie sich auf „Stille Nacht, Heilige Nacht“. Denn auch das ist Teil ihrer Geschichte, so wie sie Teil der Geschichte von Kotlas ist.

Tino Künzel

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