Vor 100 Jahren gegründet: Das kurze Dasein einer Republik

Sie hatte nur 17 Jahre Bestand: Doch von der Wolgarepublik, einer Autonomie für die Sowjetdeutschen in den heutigen Regionen Saratow und Wolgograd, geht nach wie vor eine starke Faszination aus. Das schließt auch eine kritische Auseinandersetzung mit ein. Der Historiker Arkadi German aus Saratow hat sich einen Namen mit seinen Forschungen zur Geschichte der Wolgadeutschen und ihrer Republik gemacht. Zum 100. Jahrestag der Gründung der ASSR antwortet er auf fünf Standardfragen.

Im Kolchos „Nowaja Sarja“ laufen Anfang der 1930er Jahre die Vorbereitungen zur Aussaat. (Foto: Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen, kurz GIANP, Engels, Gebiet Saratow)

Seit Oktober 1918 hatte an der Wolga eine sogenannte Arbeitskommune (Oblast) der Wolgadeutschen existiert. Was war der Grund dafür, dass sie 1924 zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen umgewandelt wurde?

Den Russlanddeutschen kam nach der Machtübernahme der Bolschewiken eine wichtige Rolle bei der von der Komintern verfolgten Politik des Revolutionsexports nach Deutschland und in andere deutschsprachige Länder zu. Deshalb sollte die Arbeitskommune (Oblast) der Wolgadeutschen mit allen erdenklichen Mitteln zu einem „Schaufenster des Sozialismus“ werden, das den „Werktätigen“ dieser Länder als Vorbild dienen könnte. Das fünfjährige Bestehen der Oblast im Herbst 1923 wurde festlich begangen. Damals reifte bei ihrer Führung auch die Idee der Umwandlung in eine Republik. Begründet wurde das unter anderem mit der brisanten sozialpolitischen Lage in Deutschland. Man meinte, die Ausrufung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen werde dem deutschen Proletariat in seinem Kampf den Rücken stärken.

Die Sowjetführung billigte das Vorhaben. Am 6. Januar 1924, gleich zu Beginn des 11. Rätekongresses der Oblast, wurde die Gründung der ASSR der Wolgadeutschen verkündet und die Veranstaltung zum ersten Rätekongress der Republik deklariert.

Deutsch als Muttersprache in der Dorfschule von Eckheim, heute Ussatowo, am 5. Oktober 1933 (Foto: Heimatmuseum der Stadt Engels, kurz EKM)

Die Wolgarepublik bestand nur bis zur Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung nach Sibirien und Kasachstan im Jahr 1941. Welches Datum gilt als ihr erster und welches als ihr letzter Tag?

Als Verwaltungseinheit hatte die Republik ihren Geburtstag am 6.  Januar 1924. Was ihre Auflösung betrifft, so ist diese Frage deutlich schwieriger zu beantworten. Ein Schriftstück dazu gibt es nämlich nicht. Im Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 28. August 1941 ist nur von der Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet und den Gründen dafür die Rede.

Am 6. September 1941 gaben der Rat der Volkskommissare der Sowjetunion und das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei eine Anordnung heraus, gefolgt von einem gleichlautenden Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets vom 7. September zur „Adminis­trativen Gliederung der Gebiete der früheren Republik der Wolgadeutschen“. Dieses Dokument, mit dem das Territorium der Wolgarepublik zwischen dem Saratower und Stalingrader Gebiet aufgeteilt wurde, hätte sich juristisch auf ein Dokument zur Auflösung der ASSR der Wolgadeutschen stützen müssen. Doch mit solchen „Kleinigkeiten“ hat sich die Jurisprudenz unter Stalin nicht aufgehalten.

Eine frühere Kirche in der Stadt Engels dient 1933 als Ausstellungsgebäude. (Foto: Heimatmuseum der Stadt Engels, kurz EKM)

Warum geben viele Deutsche, die zwischen 1924 und 1941 in der Wolgarepublik geboren wurden, als Geburtsort das Saratower oder Wolgograder Gebiet an?

Mit dem Erlass vom 28. August 1941 wurden die Wolgadeutschen offiziell des Verrats an ihrer Heimat beschuldigt und umgesiedelt, ihre Republik hörte aus denselben Gründen zu existieren auf und durfte nach stillschweigender Übereinkunft auch nicht mehr erwähnt werden, während die Sowjetdeutschen bis Ende 1955 dem Regime der Sondersiedlungen unterworfen waren. Erst am 10.  März 1955 beauftragte der Ministerrat der Sowjetunion die Behörden für Inneres, den Bewohnern der Sondersiedlungen sowjetische Pässe auszustellen, wodurch ein moralisches Element der Diskriminierung dieser Kategorie von Sowjetbürgern beseitigt wurde. In den neuen Pässen, wie später auch in anderen Dokumenten, tauchte die ASSR der Wolgadeutschen natürlich nicht auf. Die Orte, in denen die Menschen zur Welt gekommen waren, wurden mit ihren russischen Bezeichnungen eingetragen und jenen Gebieten zugeschrieben, in denen sie sich nach der Aufteilung der Wolgarepublik wiederfanden.

Die Wolgadeutsche Klara Scheiermann mit ihren Enkeln (Foto: Museum „Alt-Sarepta“, Wolgograd)

Von den nationalen Republiken und autonomen Gebieten der 1930er und 1940er Jahre bestehen fast alle auch heute unter der einen oder anderen Bezeichnung fort. Einzige Ausnahme ist die Republik der Wolgadeutschen. Warum wurde sie nicht wiederhergestellt?  

Auf diese Frage kann es keine eindeutige und kurze Antwort geben. Gründe dafür ließen sich etliche anführen, vor allem die weit verbreiteten antideutschen Stimmungen in unserer Gesellschaft nach dem Krieg. Bis 1955 verbüßten die Deutschen gewissermaßen eine Strafe, indem sie in Sondersiedlungen untergebracht waren, also in der Verbannung lebten und sich nicht frei bewegen konnten.

Am 29. August 1964 wurde ein Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion unterzeichnet, der Änderungen im Erlass vom 28. August 1941 vornahm. Er enthielt zwei Hauptthesen. Erstens wurden damit erstmals im Namen des Staates die 23 Jahre zuvor gegen ein ganzes Volk erhobenen Beschuldigungen als unbegründet bezeichnet und zurückgenommen. Zweitens wurde in dem Dokument behauptet, dass die deutsche Bevölkerung in der Nachkriegszeit „an den neuen Wohnorten auf dem Territorium einer Reihe von Republiken, Kreisen und Gebieten Wurzeln geschlagen“ habe.

Der Versuch, die deutsche Wolga­autonomie in der Pere­stroika-Zeit neu aufleben zu lassen, scheiterte ebenfalls und rief eine heftige antideutsche Resonanz im Wolgagebiet hervor. Vor diesem Hintergrund scheute der Staat vor der Verantwortung zurück, die Einrichtung einer deutschen Autonomie zu initiieren. Die Russlanddeutschen reagierten zutiefst enttäuscht und wählten zum überwiegenden Teil eine alternative Problemlösung: die Ausreise nach Deutschland.

So wurde der zehnte Jahrestag der Oktoberrevolution 1927 in Marxstadt, heute Marx, begangen. (Foto: Staatliches Historisches Archiv der Wolgadeutschen, Engels, Gebiet Saratow)

1992 hielten die Regierungen Russlands und Deutschlands offiziell fest, dass eine „wiederhergestellte Republik der Wolgadeutschen zum kulturellen und geistigen Zentrum aller Deutschen auf dem Gebiet jener Staaten, die der ehemaligen Sowjetunion angehörten“, würde. Doch warum ausgerechnet die Republik, obwohl dort 1939 nur 25 Prozent aller Sowjetdeutschen lebten?

Weil man auf die damaligen Erfahrungen zurückgreifen konnte. Die ASSR der Wolgadeutschen aus den Jahren 1924 bis 1941 war in erheblichem Maße ein solches Zentrum für jene Sowjetdeutschen, die in kompakter Weise in der Ukraine, im Südkaukasus, im Umland von Leningrad, in Sibirien und anderswo lebten. In der Wolgarepublik wurden für andere Gruppen von Sowjetdeutschen Zeitungen, Zeitschriften und Bücher herausgegeben, Kinojournale und Spielfilme gedreht. Vor den Deutschen aus anderen Regionen traten der Staatliche Chor der ASSR der Wolgadeutschen, das Deutsche Schauspielhaus und die Philharmonie auf, die in Engels beheimatet waren. In der deutschen Republik gab es eine pädagogische und eine landwirtschaftliche Hochschule, wo auf Deutsch und Russisch unterrichtet wurde und wo viele junge Leute aus anderen Gegenden mit deutscher Bevölkerung studierten. Für Deutsche aus diesen Regionen existierten sogar spezielle Quoten. Die Bedeutung der Wolgarepublik für Bildung und Kultur in anderen Regionen kann also gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.  

Die Fragen stellte Olga Silantjewa.

Ein Wort zum Bild

Bei den obigen Fotos handelt es sich um Archivaufnahmen, die bereits in zwei Bildbänden enthalten sind. „Das deutsche Wolgagebiet. Eine unvollendete Fotogeschichte“ (2018) und „Wolgadeutsche. Facetten des Alltagslebens“ (2022) wurden vom Internationalen Verband der deutschen Kultur in Moskau herausgegeben. Die Bilder vermitteln einen Eindruck von Land und Leuten jener Zeit, die in der kollektiven Erinnerung der Russlanddeutschen eine herausragende Rolle spielt. Der Blickwinkel entspricht dabei den Vorgaben der sowjetischen Stellen. Das Bild hat somit viele blinde Flecken, ausgespart werden etwa die politischen Verfolgungen der 1930er Jahre, die negativen Begleiterscheinungen der Kollektivierung auf dem Land und letztlich auch die weitgehende Räumung der Wolgarepublik im Zuge der Deportation der Deutschen. Zu sehen ist vordergründig die wirtschaftliche Erschließung der Region, Arbeit unter den Bedingungen der Sowjetmacht und die Unterstützung der Bevölkerung für den neuen Kurs.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: