Liebeserklärung an Tomsk

Gäbe es einen Wettbewerb um das schönste Begegnungszentrum der Russlanddeutschen, würde ihn wahrscheinlich das Russisch-Deutsche Haus in Tomsk gewinnen. Seit 1993 befindet es sich in einem alten Kaufmannshaus, einem Denkmal der Holzbaukunst. Am Tag der Feierlichkeiten anlässlich des 30. Geburtstages des Hauses sprach die MDZ mit einem seiner ersten Leiter, mit Iwan Scheiermann.

Iwan Scheiermann (Foto: Olga Silantjewa)

Über das Russisch-Deutsche Haus

Ich bin hier zu Hause. Ich habe 1991 dieses Haus von den Medizinern übernommen (vorher befand sich hier die Medizinische Fachschule, Anm. d. Red.). Damals stand das Wasser im Keller kniehoch, an einigen Stellen war der Fußboden eingebrochen. Es war gefährlich, darauf zu gehen. Bis zum Beginn der Renovierungsarbeiten war ich der Direktor. 1993 wurde das Haus auf Initiative der Gesellschaft der Russlanddeutschen und mit Mitteln zweier Länder, Russlands und Deutschlands, restauriert. Habe ich damals gedacht, dass wir einmal den 30. Jahrestag des Russisch-Deutschen Hauses feiern werden? Natürlich nicht. Damals dachte ich, dass man hier in Tomsk etwas für die Deutschen tun müsse.

Wir wollten unser eigenes Kulturzentrum mit einem Saal für 100 Plätze und mit einem Hotel mit zehn Zimmern eröffnen. Wir hatten einen Architekten an der Hand, der ein wunderschönes Projekt für ein solches Zentrum entworfen hatte. Es gab die Idee, ein deutsches Dorf bei Tomsk zu schaffen und die Deutschen aus dem Norden des Gebietes herzubringen, damit sie da ein Stück Land bebauen und ihre Kinder in Tomsk studieren konnten. Ich bin ja selbst einmal nach Tomsk zum Studium gekommen.

Das märchenhafte Russisch-Deutsche Haus in Tomsk, frisch gestrichen zum 30. Jubiäum (Foto: Snajgorod)

Über meinen Weg nach Tomsk

Mein Vater stammt aus der deutschen Wolgarepublik. 1931 floh seine Familie vor der Kollektivierung in das Gebiet Tula. Dort betrieb sie bis 1941 Landwirtschaft. Aber im Jahre 1941 wurden sie in den Zug gesetzt und nach Kasachstan verbracht, in das Gebiet Semipalatinsk. Im Februar 1942 zog man den Vater und den Großvater in die Arbeitsarmee ein, und wieder ging es nach Tula. In die Bergwerke.

Meine Mutter deportierte man bereits im August 1941 von der Krim, zuerst in den Kaukasus. Dort haben sie die Ernte eingebracht. Und wieder wurden sie in Waggons gepfercht und nach Semipalatinsk gebracht. 1943 wurde meine Mutter zur Arbeitsarmee einberufen und ab ging’s nach Tula. Auch in die Bergwerke. Sie beförderte die Loren, aber dank ihres Wissens, sie hatte es geschafft, sowohl in die deutsche als auch in die russische Schule zu gehen, war sie eine Zeit lang als Dolmetscherin tätig.

1948 kam ich im Gebiet Tula zur Welt. Dort lebten wir bis 1959. Dann bestand meine Mutter darauf, dass wir von den Bergwerken wegziehen sollten, in den Süden. So ließen wir uns im Süden Kasachstans nieder. Dort bin ich sechs Monate in die Schule gegangen und habe sechs Monate auf dem Feld gearbeitet. Nach dem Schulabschluss mit Auszeichnung, aber ohne Wissen, fuhr ich nach Tomsk zum Studium. Und bin hier hängengeblieben. Heute gibt es für mich keine bessere Stadt. Ich liebe Tomsk.

Warum blieb ich in Tomsk

Ich hatte die Möglichkeit wegzugehen. Nach Tula, wo ich noch Verwandte hatte, oder nach Kaliningrad. Oder nach Deutschland. Dahin sind mein Vater und meine Schwestern von Kasachstan aus gegangen. Der Vater hat zwar eine Zeit lang bei mir gewohnt, ist aber dann trotzdem nach Deutschland ausgereist. Aber ich wollte niemandem auf der Tasche liegen. Arbeit gab es für mich in Deutschland zu keinem Zeitpunkt. Ich habe die Tomsker Universität abgeschlossen, die historische Fakultät. Von meiner Ausbildung her bin ich Geschichtslehrer, habe jedoch nur sehr kurz als Lehrer gearbeitet. Ich war als Meister in einem Betrieb tätig, als Dispatcher der Heizanlage.

1995 bekam ich von Deutschland einen Kredit über 55 000 D-Mark und eröffnete eine eigene Druckerei. Ich ging total in meiner Firma auf. In der Pandemie wurde die Druckerei geschlossen. Sie hatte meine Familie stark unterstützt. Es war genau das richtige Projekt, damit unsere Familie nicht nach Deutschland ausgereist ist. Meine Tochter absolvierte das deutsche Gymnasium in Tomsk und lebt in Sewersk. Die Enkelin studiert an der Medizinischen Fachschule und arbeitet auch schon.

Über die Sibiriendeutschen

Ende der 1980er Jahre begann ich mit der gesellschaftlichen Arbeit, war Abgeordneter des letzten Stadtrates und habe mich aktiv in die Bewegung „Wiedergeburt“ der Deutschen eingebracht. Ich glaubte damals fest daran, dass ich an die Wolga zurückkehren werde. Aber im Laufe der Jahre, auch wenn ich zu den Versammlungen der Deutschen in Moskau weilte, verstand ich, dass das im Prinzip nicht möglich war. Nicht nur deshalb, weil die Obrigkeit nichts unternahm, sondern weil innerhalb der Bewegung keine Einigkeit herrschte. Wir waren verschieden. Wir waren ukrainische, kaukasische Deutsche, wir kamen aus Sibirien und von der Wolga, was verhinderte, dass wir einheitliche Forderungen aufstellen konnten.

Warum verschieden? Im genetischen Code der Wolgadeutschen spiegeln sich die Überfälle der Kirgisen in den ersten Jahren der Wolgakolonien wider, die Aneignung großer Landstriche und die Urbarmachung. Das Festkrallen an der Erde. Die ukrainischen Deutschen kamen später nach Russland und in fruchtbarste Landstriche. Die Umsiedlung fiel ihnen leichter. Die Moskauer und Petersburger Deutschen sind Adlige und Kaufleute. Sie schauten auf die anderen Deutschen von oben herab. Wo gibt es hier eine Gemeinsamkeit? Wir sind auch verschiedener Konfession.

Wir sind auch zerrissen durch das, was wir tun. Wer in Russland bleiben wollte, ist geblieben. Wer nur sein Stückchen von der Wurst abbekommen wollte, ist weggegangen. Das waren in erster Linie die ukrainischen Deutschen.

Wir haben in den Norden des Tomsker Gebietes Expeditionen gestartet. Ich habe dort mit den Deutschen gesprochen. Die absolute Mehrheit von ihnen sind Wolgadeutsche. Und sie sagen: „Mir geht es auch hier gut. In meiner Nähe gibt es einen Fluss mit vielen Fischen.“ Sie haben hier Wurzeln geschlagen. Sie brauchen die Wolga schon nicht mehr.

Aufgeschrieben von Olga Silantjewa

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