Idol der Gegenkultur: Jegor Letow und der Klang des Protestes

Die sibirische Punkband Graschdanskaja Oborona gibt es seit 2008 nicht mehr. Aber auch heute noch liefern ihre Lieder den Soundtrack für den Protest in Russland.

Protest

Junge Menschen protestieren auf der Twerskaja-Straße. /Foto: Daniel Säwert

Zehn Jahre ist es nun her, dass der Musiker und Dichter Jegor Letow im Alter von nur 43 Jahren in seiner Wohnung in Omsk verstarb. Zufällig wurde das letzte Konzert seiner Band Graschdanskaja Oborona (Bürgerwehr) in Jekaterinburg aufgezeichnet.

Seit Mitte Februar füllt der Film „Der Schein zerbricht“ Kinosäle in ganz Russland. Vor allem Menschen, die Ende 20, Anfang 30 sind, stehen Schlange, um sich noch einmal in ihre Teenagerzeit zu versetzen zu lassen.

Jegor Letow und seine Band Graschdanskaja Oborona sind bis heute ein Phänomen in Russland. Und das in musikalischer, menschlicher und vor allem in politischer Hinsicht.

Sprachrohr einer ganzen Generation

Was fasziniert die Russen bis heute an Jegor Letow? Es sind vor allem dessen Einstellung und Sicht auf die Welt. Letow war ein nonkonformer und radikaler Mensch. Für ihn war der Aufstand die einzige Form von Freiheit und das bedeutete, dass man nur frei sein kann, wenn man stets dagegen ist. Letow ging so weit, dass er nicht nur politische Realitäten ablehnte, sondern die Weltordnung an sich. So wurde er zum Symbol der russischen Gegenkultur.

Jegor Letow war ein Linker, der mit seinen Aktionen sowohl Bewunderung als auch Verwirrung auslöste. Unvergessen bleibt Letow für viele Russen indes für die Art und Weise, wie er seine Einstellungen und Gedanken in Gedichte und Lieder umwandelte. Anders als in Deutschland gibt es in Russland Sänger und Lieder, die eine ganze Generation geprägt haben.

„Für unsere Eltern war es Wladimir Wyssozki und für uns Jegor Letow“, erklärt die Psychologin Swetlana Bronnikowa. Letow ist vor allem das Sprachrohr derjenigen, die in den Jahren der Perestroika geboren wurden und in der von ihm beschriebenen Realität aufwuchsen. So erlernten viele Jugendliche zu seinen Liedern ihre ersten Griffe auf der Gitarre.

Der Musikjournalist Andrej Bucharin meint, dass Letow es wie kein anderer geschafft habe, die Situation der Umbruchszeit und die Wahrnehmungen von Stagnation und Turbokapitalismus eindrucksvoll zu formulieren. Seine Lieder seien in Fleisch und Blut des nationalen Selbstverständnisses der Russen übergegangen, so Bucharin.

Das mit Abstand bekannteste Lied von Graschdanskaja Oborona ist sicher „Alles läuft nach Plan“. Sehr zum Unmut Letows wurde dieses oft falsch interpretiert und ihm Sympathie für das sowjetische System nachgesagt. Dabei ist es eine sarkastische Komposition über die Perestroika. Letow hat sich in die Rolle eines Alkoholabhängigen hineinversetzt, der beschreibt, was über die damalige Wirklichkeit im Fernsehen gezeigt wird.

Die Lieder erobern die Straße

Um die Jahrtausendwende wurden die Lieder von Graschdanskaja Oborona zu einem Symbol des politischen Protestes und waren immer häufiger auf Demonstrationen zu hören. Jegor Letow selbst lehnte Wladimir Putin und dessen politisches wie gesellschaftliches System stets ab.

Und die jungen Menschen finden in den Liedtexten viele Parallelen zur aktuellen Situation. Denn sie prangern einen Konformismus und die Verheißung einer goldenen Zukunft an. Manch einer denkt sicher auch an den „Plan Putins“, das politsche und wirtschaftliche Programm des russischen Präsidenten. Zugleich erinnern die Lieder auch an die Zeit, in der viele Menschen ihre Angst vor dem System ablegten.

Von allen Intonierungen bleibt für viele sicherlich die des Journalisten Oleg Kaschin während der Proteste auf dem Bolotnaja-Platz im Mai 2013 in Erinnerung. Kaschin begab sich auf die Bühne, um mehr brüllend als singend in Erinnerung an Jegor Letow „Alles läuft nach Plan“ anzustimmen. Für viele Beobachter hatte der Auftritt etwas komisches.

Denn die Lieder Jegor Letows werden doch lieber gemeinsam gesungen. Und so ist wahrscheinlich, dass auch am Abend des 18. März Graschdanskaja Oborona auf den Straßen und Plätzen Russlands zu hören sein wird.

Daniel Säwert

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