Die Augsburger Glaubensrichtung
Selbst diejenigen, die mit der lutherischen Tradition in Russland mehr oder weniger vertraut sind, verstehen nicht ganz, was es mit der evangelisch-lutherischen Kirche der Augsburger Glaubensrichtung auf sich hat. Woher kommt diese Bezeichnung überhaupt? Die Erklärung dafür ist einfach: Zu dem Zeitpunkt, als die pietistischen lutherischen Gemeinschaften ihre Kirche in den entsprechenden Ämtern registrieren lassen wollten, waren schon einige lutherische Kirchen eingetragen und die Bezeichnung „evangelisch-lutherische Kirche Russlands“ war schon besetzt. Die Bezeichnung musste also etwas angepasst werden, obwohl es nach den Worten von Alexander Franz „doppelt gemoppelt“ war: „Jede lutherische Kirche erkennt die Augsburger Glaubensrichtung an. Und Kirche der Augsburger Glaubensrichtung klingt so ähnlich wie orthodox in orthodoxer Tradition.“
Lutheraner: die städtischen und die ländlichen
Alexander Franz kann stundenlang über die Geschichte des Luthertums in Russland erzählen, schafft es aber auch, in einer kurzen Erzählung das Wichtigste unterzubringen. Bis 1917 unterschieden sich die Gottesdienste zwischen Stadt und Land grundsätzlich voneinander. In der Stadt predigten Pastoren aus Tübingen oder Halle, erklang Orgelmusik und an den Wänden hingen Bilder von Karl Brjullow. Auf dem Land hatte man manchmal nicht einmal ein Kirchengebäude: „Auf sechs, sieben, zehn deutsche Dörfer kam eine Kirche. Wie sollte der Pastor im ganzen Kreis seinen Dienst verrichten, wenn er zum sonntäglichen Gottesdienst physisch nicht gleichzeitig an zwei Orten sein konnte?“ Er fuhr die Dörfer der Reihe nach ab, und wo er gerade nicht sein konnte, versammelten sich die Gläubigen ohne ihn. Solche Gebetsversammlungen führten die „älteren Brüder“ durch, das waren in der Gemeinde geachtete Personen. Das ist keine Erfindung der Russlanddeutschen; diese Tradition brachten die ersten deutschen Kolonisten mit.
Wie man politische Verfolgung überstand
Franz nennt die ländlichen Lutheraner „Volkspietisten“. Sie kannten weder Philipp Jakob Spenner noch August Hermann Franke oder andere Ideologen des Pietismus, hingen aber dieser Bewegung innerhalb der Kirche im Prinzip an. Für sie war es eine wahre „Religion des Herzens“, wie es Franke nannte. Solche Menschen bewahren ihren Glauben in allen Prüfungen, an denen es nach 1917 nicht mangelte. Mit dem Machtantritt der „kämpfenden Gottlosen“ war die lutherische Kirche praktisch vernichtet, die Pastoren politischer Verfolgung ausgesetzt. Aber in den Dörfern blieb die lutherische Tradition erhalten: „Wie konnte man alle älteren Brüder einsperren? Sie waren nicht als Pastoren zu erkennen und hatten kein Diplom.“ Dasselbe passierte in den mennonitischen Gemeinden. Alexander Franz erinnert sich, wie er die während der Perestroika veröffentlichten Berichte der KGB-Mitarbeiter las, die zu Breschnews Zeiten verfasst worden waren. Die KGB-Offiziere beklagten, dass sie keine Informanten in diese ethno-konfessionellen Gruppen einschleusen konnten. Dort waren alle miteinander verwandt und verrieten die Ihrigen nicht.
Glaubensbrüder
Während der Gorbatschowschen Perestroika kamen die Altaier und andere pietistische Gemeinschaften aus dem Untergrund ans Licht. Und dort trafen sie auf ihre Glaubensbrüder: Zuerst kamen Pastoren der EKD (Evangelische Kirche Deutschlands) ins Land, dann aus Amerika, von den Synoden in Missouri und Wisconsin. Die Euphorie wurde recht bald von Enttäuschung abgelöst. Die ausländischen Pastoren, so meint Franz, schauten oft auf die erhalten gebliebenen Pietisten in Russland von oben herab, aber die „älteren Brüder“ akzeptierten das nicht, sodass ein Konflikt entstand. „Man hätte die pietistische Richtung, die es übrigens auch in Amerika, bei den Finnen, Letten und Esten gibt, einfach in Betracht ziehen müssen. Man hätte sich einigen können. Aber die ausländischen Gäste wollten sich mit den vor Ort Lebenden nicht einigen: Entweder ordnet ihr euch unter und macht das, was wir sagen, oder ihr seid draußen.“
Kirchenarbeit für Frauen
Es gab mit den Vertretern der EKD auch grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten. Die pietistischen Gemeinden sind ziemlich konservativ. Oder traditionsbewusst. Sie erkennen weibliche Pastoren nicht an und bestehen darauf, dass das der Bibel widerspricht. Selbst als in den schweren Jahren, als die Frauen verschiedene Pflichten der „älteren Brüder“ übernahmen und sie die Gläubigen versammelten, singen und beten konnten, durften sie nicht das Sakrament spenden, die Männer belehren oder den Brüdern Anordnungen geben. Alexander Franz erläutert diese Haltung der Pietisten am Beispiel seiner Großmutter und fügt dann hinzu: „Eine Frau hat viel Arbeit in der Kirche. Sie kann die Kinder unterrichten. Warum? Weil diese Kinder noch nicht zu Männern herangewachsen sind. Sie darf Männer nicht belehren.“
Geldfrage
Die evangelisch-lutherische Kirche der Augsburger Glaubensrichtung bekommt keine finanziellen Zuwendungen. „Alle pietistischen Gemeinden finanzieren sich selbst. Bei uns steht am Kircheneingang ein kleiner Topf. Dort hinein spenden die Menschen Geld. Ich schaue nicht nach, wie viel. Damit bezahlen wir Strom und Gas.“ Das ist keine Beschwerde. Alexander Franz findet diesen Weg richtig. Wenn man von Subventionen lebt und sie plötzlich gekürzt oder gestrichen werden, wird es schwierig bis unmöglich, die Kirchengebäude zu erhalten.
Vereinigung gewünscht, aber brüderlich
So leben auch die Gemeinden in Kaliningrad, Moskau, Barnaul und im Altaier Dorf Nowotyryschkino. Nicht ohne Bitterkeit spricht Franz über den Verlust der Gemeinden in Woronesch und St. Petersburg. Und fügt hinzu, dass er jetzt eine Vereinigung mit der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands (ELZ) für wünschenswert hält. Pastorinnen gibt es in Sibirien bei der ELZ nicht, es ist kein Hindernis mehr. Aber er möchte, dass die Vereinigung auf brüderliche Weise geschieht: „Mir ist es wichtig, dass alle unsere Gemeinden aufgenommen werden, dass niemand außen vor bleibt. Wenn wir uns vereinigen, dann kommen wir alle zu euch. Wenn wir eure Pastoren anerkennen, so tut ihr es auch mit unseren.“
Franz ist in diesem Falle sogar bereit, auf die Leitung zu verzichten, damit der Klerus und die Gemeindemitglieder der vereinigten Kirche sich einen neuen Erzpastor wählen können. Es ist auch wichtig, dass nicht so etwas wie mit der Synode von Wisconsin passiert, die Hilfe und Zusammenarbeit unter der Bedingung angeboten hatte, dass ihre Pastoren den russischen Lutheranern eine Prüfung abnehmen. „Ich habe ihnen geantwortet, dass die Gemeindemitglieder, die jetzt über 70 sind, Deportation, Stalinsche Lager und die Arbeitsarmee durchlebt haben und dort, hinter dem Stacheldrahtzaun, ihrem Glauben treu geblieben sind. Nicht ihr solltet sie prüfen, sondern sie euch. Euer Glaube wurde nicht in jahrelangen Verfolgungen auf die Probe gestellt.“