Geiseln der Pandemie

Das Coronavirus hat die Pläne von hunderten Russlanddeutschen durchkreuzt, die im Frühjahr ihren ständigen Wohnsitz nach Deutschland verlegen wollten. Einige von ihnen fanden Schlupflöcher und schafften es bis ins Grenzdurchgangslager Friedland. Es gibt aber auch diejenigen, die immer noch auf gepackten Koffern sitzen.

Spartanisches Hausen im Grenzdurchgangslager Friedland (Foto: privat)

Der Moskauer Ingenieur Alexander Gubtschenko erhielt am Vorabend des 8. März das für den Umzug nach Deutschland erforderliche Visum. Nach dem Feiertag plante er, seinen Job zu kündigen, seine Wohnung zu vermieten und Tickets zu kaufen. Dafür hatte er 90 Tage Zeit. Dann aber schlossen sowohl Deutschland als auch Russland wegen der Pandemie ihre Grenzen. Der Flugverkehr wurde mehr oder weniger eingestellt. Auf den seltenen Flügen zwischen Moskau und Frankfurt waren keine Russlanddeutsche mit russischem Pass zugelassen.

Was also soll man machen? Der 36-jährige Mann fragte die deutsche Botschaft in Moskau, was er tun solle, wenn er es nicht rechtzeitig nach Deutschland schaffen würde. Die Antwort war eher unbefriedigend: „Kommen sie wieder, wenn Ihr Visum endet.“ Dann beschloss Alexander, unabhängig zu handeln. Er schrieb den Grenzposten in Polen und Finnland. Die Polen weigerten sich sofort. Die Finnen sagten, es gebe eine Chance. Mitte Mai überquerten Alexander, seine Frau und seine zwei kleinen Kinder die russisch-finnische Grenze. Mit der Fähre erreichten sie dann Deutschland.

Das Bundesverwaltungsamt ist keine große Hilfe

Die Deutschen haben den Aufnahmebescheid lange geprüft und sie schließlich ins Land gelassen. Im Grenzdurchgangslager Friedland gab es zusammen mit Gubtschenko drei oder vier weitere Familien. „Wir wurden nach Bayern geschickt und für zehn Tage unter Quarantäne gestellt“, sagt Alexander. Er kann keine Sozialleistungen beanspruchen, weil er seinen alten Job vor der Abreise nicht gekündigt hat: „Wir wussten nicht, wie es mit dem Grenzübergang wird.“ Auch ihre Wohnung hat die Familie nicht aufgegeben.

Auch das Bundesverwaltungsamt (BVA), das für den Empfang der Spätaussiedler verantwortlich ist, konnte nicht sagen, wie die Russlanddeutschen unter den gegenwärtigen Bedingungen verhandeln sollen. Eine Deutschlehrerin, Larissa Schmidt, deren Freund im März von Russland nach Deutschland ziehen wollte, kontaktierte das Bundesverwaltungsamt zweimal telefonisch. Sie wollte wissen, ob Deutschland Menschen akzeptiert, die einen Aufnahmebescheid haben, erhielt aber keine Antwort. „Ich frage mich, was die Leute machen sollen, die alles verkauft haben und auf ihren Koffern sitzen“, sagt Larissa Schmidt. „Ich schlug vor, auf der BVA-Seite relevante Informationen zum Grenzübergang und zu den Bedingungen für die Aufnahme von Spätaussiedlern zu veröffentlichen. Sie sagten mir, dass sie meine Wünsche übermitteln würden.“ Die Informationen lassen sich auf der BVA-Website noch immer nicht finden.

Ohne Geld, Registrierung, Job und Unterschlupf

Es gibt auf der BVA-Webseite auch keine aktuellen monatlichen Statistiken. Das letzte Mal wurde es im März aktualisiert. In diesem Monat kamen 363 Spätaussiedler nach Deutschland. Der Freund von Larisa Schmidt konnte trotzdem noch eine Lücke finden und nach Deutschland gehen. Der junge Mann erzählte, dass beim Check-in am Flughafen Scheremetjewo Vertreter der deutschen Grenzkontrolle standen und alle wegschickten, die „nicht an ihren ständigen Wohnort zurückkehren“. Unter den Betroffenen war eine Russlanddeutsche aus Krasnojarsk mit zwei Kindern. Viele Tränen und die Geschichte, dass der Familie in Russland nichts mehr bleibe, halfen: Sie wurden für den Flug registriert. Später traf man sich in Friedland wieder. Ende Mai gab es hier vier bis fünf Familien von Einwanderern aus Russland und der Ukraine.

Der 40-jährige Eugene Alles aus Stawropol hatte kein solches Glück. Mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn kam er am 10. März nach Moskau und beantragte ein Visum. Die Familie wollte nicht nach Stawropol zurückkehren: Eugene hatte die Mietwohnung der Familie und seinen Job gekündigt. Nach zehn Tagen wurde ihnen mitgeteilt, dass die Visa-Genehmigungen ausgesetzt würden. Die Familie kehrte nach Stawropol zurück und sitzt seitdem auf ihren Koffern. Sie haben kein Geld, keine Registrierung, keinen Job, keinen Unterschlupf.

„Anscheinend mag man keine Leute, die zu aktiv sind.“

Vor einem Monat organisierte Eugene Alles eine Gruppe bei WhatsApp, in der sich Familien in einer ähnlichen Situation vernetzen konnten. Ihr sind bisher rund 260 Leute beigetreten, weitere 100 auf Telegram. Im Namen der Aussiedler, die zwischen den beiden Ländern feststecken, sandte Alles einen Brief an das Innenministerium sowie das deutsche Außenministerium. „Wir haben Häuser und Wohnungen verkauft, unsere Jobs gekündigt, wurden von der Registrierung gestrichen. Jetzt haben wir Unterkünfte gemietet und warten darauf, dass wir nach Deutschland einreisen dürfen. Die Preise für Flugtickets sind auf exorbitante Höhe gestiegen und viele von uns haben keine Existenzgrundlage “, heißt es in dem kollektiven Hilferuf.

„Ich habe diese Gruppe gegründet und einen Brief geschrieben, mit dem Ziel, dass die Menschen ihre Visa bekommen“, sagt Eugene Alles. „Inzwischen werden sie ausgestellt. Und wer will, kann gehen. Aber mein Fall wurde zur detaillierten Überprüfung geschickt. Anscheinend mag man keine Leute, die zu aktiv sind.“ Der deutsche Bundesbeauftragte für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Bernd Fabritius, machte in einer Pressemitteilung über seine Telefonsprechstunde Ende Mai darauf aufmerksam, dass „deutsche Auslandsvertretungen nach Informationen des Auswärtigen Amtes erforderliche Zuzugsvisa weiterhin erteilen und eine Einreise im Rahmen des Aussiedleraufnahmeverfahrens so ungehindert möglich ist“.

Von Olga Silantjewa

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