Normalerweise ist es Mitte November in Wolgograd bitterkalt, der Wind hat eine schneidende Schärfe. Aber als ob der Himmel ein Einsehen an diesem Tag hätte, wölbt er sich blau und freundlich über der Anlage, 37 Kilometer von Wolgograd – dem früheren Stalingrad – entfernt.
Friedhof mit mehr als 70.000 Toten
Gelegen ist er in der Steppe, in einer flachen, eher trostlosen Landschaft, kaum Grün, keine Bäume – hier tobte die Schlacht um Stalingrad. Es ist eine der größten deutschen Kriegsgräberstätten Europas mit 67.900 Toten. Am Ende der Woche werden es mehr als 70.000 sein, die auf dem riesigen, kreisrunden Friedhof mit der drei Meter hohen Außenmauer beigesetzt sind. Die Gebeine hat das Team um den örtlichen Umbettungsleiter Matthias Gurski in den vergangenen 18 Monaten exhumiert, untersucht und alles dokumentiert.
3321 Tote – eine erschreckende Zahl. Sie verpflichtet dazu, sich die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und besonders die von Stalingrad immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Das düsterste Kapitel in der deutsch-russischen Geschichte darf gerade in der jetzigen schwierigen Zeit nicht vergessen werden!
Eine kleine Volksbund-Delegation ist mit deutschen und russischen Schülerinnen und Schülern nach Rossoschka gereist. Mit dabei ist auch Guido Kemmerling, der Kulturattaché der Deutschen Botschaft in Moskau, der sich beeindruckt zeigt von der Größe der Kriegsgräberstätte.
Blumengebinde an sowjetischen Gräbern
Zuerst legen wir gemeinsam auf dem gegenüberliegenden sowjetischen Soldatenfriedhof Blumengebinde nieder. Nur eine schmale, kaum befahrene Straße trennt die russischen und die deutschen Gräber.
1999 wurde der deutsche Friedhof eingeweiht, die Beziehungen zwischen Berlin und Moskau waren sehr gut. Deutsche und russische Veteranen trafen sich in all den Jahren. Die Devise des Volksbundes „Versöhnung über den Gräbern“ wurde Realität. Oftmals lagen sich die Gegner von einst in den Armen, flossen Tränen, entstanden Freundschaften.
Zehntausende von Verwandten reisten aus Deutschland nach Rossoschka, besuchten die Gräber ihrer Männer, Brüder oder Cousins. Derzeit kommen Familienangehörige nur noch vereinzelt.
Zu Beginn der Beisetzung erinnere ich vor den ausgehobenen Gräbern daran, dass die deutschen Soldaten nicht für das Vaterland fielen, sondern weil ein menschenverachtender Diktator mit einer gigantischen Militärmaschinerie glaubte, die Sowjetunion besetzen zu müssen. Der Plan, bis zu den Ölfeldern des Kaukasus vorzudringen, scheiterte in Stalingrad endgültig.
Der ebenfalls mitgereiste evangelische Pfarrer Fridtjof Amling von der Moskauer Emmausgemeinde ruft in seiner Predigt dazu auf, den Gottesgedanken des Friedens nicht fallen zu lassen. „Gerade in der heutigen Zeit geht es darum, Hoffnung zu schenken und nicht nach Hass und Rache zu sinnen.“
„Wir müssen uns auseinandersetzen“
Der Name Stalingrad habe sich in das Gedächtnis der Menschheit eingebrannt. Zwischen August 1942 und Februar 1943 kamen mehr als eine Millionen Menschen ums Leben. „Für diese Schlacht waren Deutsche verantwortlich, die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler. Als Deutsche müssen wir uns stets mit diesem Teil unserer Geschichte auseinandersetzen.“
Die Jugendlichen fordert der Pfarrer auf, alles in dieser Welt zu tun, um nach Frieden zu streben, gemäß Jerimas 29, 11-14: „Der Gott der Bibel ist ein Gott des Friedens, auch wenn sein Name für Krieg und Unrecht missbraucht wurde und immer noch wird!“
Für die aus Moskau angereiste Delegation sind vier schwarze Särge auf einem Tisch aufgestellt. Sie werden symbolisch zur Beisetzung überreicht. Die ersten reichen Guido Kemmerling und ich an die anderen deutschen und russischen Jugendlichen. Auch sie sind sichtlich berührt und ergriffen.
Einer der deutschen Schüler sagt später: „Krieg ist nicht nur ein Wort. Es passiert Entsetzliches. Unbegreiflich, was Menschen sich gegenseitig antun.“ Eine russische Jugendliche ergänzte: „Die Folgen des Krieges werden zumeist erst hinterher klar. Die Frage ist: Wie kann man die Spuren der Erinnerung festhalten und begreifen, welche Aufgabe uns die Vergangenheit hinterlässt?“
Luftbilder führen zu Massengräbern
Spuren der Vergangenheit findet der Leiter des Umbettungsdienstes Russland, Denis Deryabkin, immer wieder mithilfe von Luftaufnahmen. Diese kauft der Volksbund bei einem amerikanischen Unternehmen, das nach dem Krieg die Bestände der Wehrmacht mit in die USA nahm. Darunter auch Luftbilder, die die deutsche Luftwaffe während ihrer Einsätze machte.
So stieß Denis Deryabkin im Sommer 2023 auf Massengräber, 70 Kilometer nördlich von Wolgograd, in der Nähe des Dorfes Krasnojarsk. Dort gab es so etwas wie einen „Umschlagplatz“ für deutsche Kriegsgefangene. Sie wurden unter schrecklichen Umständen „verladen“, in Zügen eingepfercht. Viele der Verwundeten starben schon vor der Abfahrt, verhungerten oder erfroren.
Durch intensive Recherche im russischen Militärarchiv in Moskau wurde klar, dass mindestens 6000 der Gefangenen schon vor dem Weitertransport ums Leben kamen. Die Verstorbenen wurden von den russischen Wachmannschaften einfach in Schützengräben geworfen. Im Laufe der Jahrzehnte aber waren die Gräben in der Landschaft nicht mehr erkennbar. Nur anhand der Luftaufnahmen konnte die Mitarbeiter des Volksbundes erahnen, wo sich möglicherweise Grablagen befanden.
Denis Deryabkin sagt: „Als wir sie gefunden haben, mussten unsere Ausbetter schnell handeln. Denn immer noch gibt es Grabräuber. In kürzester Zeit haben sie die Gebeine von mehreren tausend Toten exhumiert. Auch nachts haben sie gearbeitet. Wir wissen nicht genau, wie viele dort noch liegen. Aber wir vermuten weitere Massengräber.“
„Von guten Mächten“
Die Beerdigung auf dem Friedhof in Rossoschka endet mit dem Lied „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag.“ Geschrieben hat diese Zeilen der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer in der Haft, bevor er am 9. April 1945 auf den ausdrücklichen Befehl Hitlers hingerichtet wurde. Einen Monat später war Deutschland besiegt.
Die Schlacht von Stalingrad endete 1943, aber mehr als hunderttausend Deutsche gerieten in Kriegsgefangenschaft, wurden nach Kasachstan oder Sibirien verschleppt, wurden zusammen mit Rumänen, Ungarn oder Italienern weit entfernt auf Kriegsgefangenenfriedhöfen begraben.
Rund 90.000 Tote noch nicht geborgen
„So schwierig es ist, die Arbeit geht weiter. Allein in Stalingrad sind an die 160.000 deutsche Soldaten gestorben. Die Gebeine von mehr als 70.000 Toten konnten wir bisher bergen. 90.000 fehlen noch“, sagt Denis Deryabkin.
Oftmals sind es in Wolgograd auch Zufallsfunde: Wenn Häuser gebaut oder Straßen verbreitert werden, kommen die Gebeine deutscher und sowjetischer Soldaten ans Tageslicht. Von den 3321, die wir heute beerdigt haben, lassen sich voraussichtlich rund 20 Prozent anhand von Erkennungsmarken identifizieren. Viele deutsche Familien werden Post bekommen – wenn das Referat Gräbernachweis die Fälle bearbeitet hat und die Identitäten vom Bundesarchiv, von der Abteilung Personenbezogene Auskünfte, bestätigt sind.
In die Friedhofsmauer eingraviert
Dann werden die Namen der Großväter, Väter oder Onkel in die Friedhofsmauer eingraviert, wird es für die Familien einen Ort der Trauer geben – und hoffentlich in naher Zukunft auch wieder die Möglichkeit, ihre Gräber auf dem Soldatenfriedhof Rossoschka zu besuchen.
Gekürzte Fassung
Erste Veröffentlichung auf der Webseite des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge www.volksbund.de