„Es war die Hölle“: Die Leningrader Blockade und ein Streit um Zahlungen

Sollte Deutschland nach den jüdischen Überlebenden der Leningrader Blockade auch alle anderen Opfer entschädigen, wie Russland meint? Wladimir Galaktionow hat dazu seine eigene Auffassung. Die Blockade fiel in seine ersten Kindheitsjahre. Der MDZ hat er davon erzählt.

Alltagsszene aus dem belagerten Leningrad (Foto: Wikimedia Commons/RIA Novosti Boris Kudojarow

Wladimir Galaktionow ist in etwa so alt wie der Große Vaterländische Krieg. In wenigen Wochen wird er 80, ein Kind der Leningrader Blockade, die ihn sein Leben lang nicht mehr losgelassen hat, nicht zuletzt gesundheitlich. In St. Petersburg leitet Galaktionow eine Organisation namens Leningrader Union „Blockadekinder – 900“. Die Zahl 900 steht für die Dauer der Belagerung Leningrads durch die Deutschen, exakt waren es 872 Tage: vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944. Die Wehrmacht verzichtete darauf, die Stadt unter großen Verlusten einzunehmen – man ging davon aus, sie werde sich früher oder später von selbst ergeben. „Anstelle von Soldaten“, so der Schriftsteller Daniil Granin 2014 bei seiner Rede im Bundestag, habe man „den Hunger einmarschieren“ lassen. Die Angaben zu den Opfern unter der Zivilbevölkerung reichen von 600.000 bis zu 1,5 Millionen. Die Blockade gilt als eines der schlimmsten Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.

Nur jüdische Opfer individuell entschädigt

Als sich im Januar der Jahrestag der Befreiung von Leningrad zum 77. Mal jährte, da erneuerte Russland seinen Appell an Deutschland, alle noch lebenden Einwohner des belagerten Leningrads zu entschädigen. Nach offiziellen Angaben handelt es sich um 123.000 Menschen, die während der gesamten Dauer der Blockade oder einem Teil davon in der Stadt eingeschlossen waren („Blokadniki“). In einer Erklärung des russischen Außenministeriums heißt es, einem entsprechenden Entschluss käme eine große symbolische Bedeutung im Zuge der „beispiellosen Versöhnung von Russen und Deutschen nach dem Krieg“ zu, er würde von den „Blokadniki“ wohlwollend aufgenommen. Dass Deutschland bisher nur jüdische Blockadeopfer entschädigt habe, sei ungerecht und diskriminierend. Das sieht auch Wladimir Galaktionow so, der vom ersten bis zum letzten Tag in der belagerten Stadt war: „Wir haben alle das Gleiche durchgemacht“, sagte er der MDZ.

Die Diskussion um individuelle Schadenersatzleistungen im Zusammenhang mit der Belagerung ist nicht neu. Seit 2008 zahlt Deutschland jüdischen Überlebenden einmalig 2556 Euro. Grundlage dafür ist eine Vereinbarung mit der Opferorganisation Jewish Claims Conference. Wie dieses selektive Vorgehen zu erklären sei, begründete die Bundesregierung 2017 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion „Die Linke“. Demnach sei die jüdische Bevölkerung Leningrads – es soll sich um etwa 300.000 Menschen gehandelt haben – einem besonderen, rassistisch motivierten Verfolgungsdruck ausgesetzt gewesen. So wurden in Leningrader Vorort Puschkin, der von den Deutschen besetzt war und von wo aus die Stadt beschossen wurde, im Herbst 1941 mehrere hundert Juden in den Keller des Katharinenpalasts gesperrt und anschließend erschossen. Die Situation jüdischer sowjetischer Bürger habe sich wegen der Rassenverfolgung seitens der Nazis und der „Erwartung des sicheren Todes im Fall der Ergreifung durch staatliche Organe des Deutschen Reiches“ von der nicht jüdischen Bevölkerung unterschieden, und zwar „deutlich“. Die Bundesregierung werte den Holocaust als „historisch und menschlich einmaliges Verbrechen“, das spezielle Wiedergutmachungsleistungen von deutscher Seite erfordere.

Bundesregierung: Thema „abgeschlossen“

Schädigungen auf Grund von „allgemeinen Kriegshandlungen“ fielen dagegen unter das Völkerrecht und seien nicht Gegenstand von individuellem Schadenersatz, sondern von Reparationsvereinbarungen. Wörtlich heißt es weiter: „Es obliegt dem Staat, der Reparationen empfangen hat, die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen und seine durch den Krieg geschädigten Bürger in angemessener Weise zu entschädigen.“ Die frühere Sowjetunion habe „in erheblichem Umfang“ Reparationsleistungen erhalten und 1953 auf weitere derartige Zahlungen verzichtet. „Unter dem Blickwinkel von rechtlichen Entschädigungsleistungen“, so die Bundesregierung, sei das Thema im deutsch-russischen Verhältnis „abgeschlossen“.

Mit anderen Worten: Nicht Deutschland hat Verpflichtungen gegenüber den Blockadeopfern, sondern Russland als Rechtsnachfolger der Sowjetunion. Ungeachtet dessen wird von deutscher Seite eine sogenannte „Humanitäre Geste“ mit zwölf Millionen Euro finanziert. Das Geld dient der Modernisierung des Krankenhauses für Kriegsveteranen in St. Petersburg und der Unterstützung des Deutsch-Russischen Begegnungszentrums, damit die Erinnerung an die Leningrader Blockade wachgehalten wird. Dieses freiwillige Engagement erkennt auch das russische Außenministerium in seiner Erklärung an. Gleichzeitig heißt es dort, die Blockade sei sehr wohl ein „einzigartiges“ Geschehen im Krieg gewesen – also nicht nur eine Kriegshandlung wie andere auch. Geht es nach Moskau, ist bei den Entschädigungszahlungen das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es sei eine „prinzipielle Position“, schrieb vor einem Jahr die Russische Botschaft in Berlin, dass sich die „Frage nach den individuellen Zahlungen an alle noch lebenden Blockadeopfer unabhängig von ihrer Nationalität“ mit der „Humanitären Geste“ nicht erübrigt habe. „Die Verhandlungen zu dieser Frage werden fortgesetzt.“

Tino Künzel


Der MDZ hat Wladimir Galaktionow seine Blockadegeschichte erzählt.

Wladimir Galaktionow vor seinem Haus am Englischen Prospekt 17-19 in St. Petersburg. Hier überlebte er die Blockade. (Foto: Alexander Galperin/RIA Novosti)

Ich bin am 18. April 1941 zur Welt gekommen, wenige Monate vor dem Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Wenn ich heute irgendwo auftrete, frage ich die Zuhörer gern, was ihre erste Kindheitserinnerung ist und wie alt sie dabei waren. Meistens sagen die Leute dann: fünf Jahre, sechs Jahre. Als ich fünf Jahre alt war, also bereits nach dem Krieg, hat sich bei einer Neujahrsfeier in unserem Kulturhaus herausgestellt, dass ich mich an eine Begebenheit erinnere, die drei Jahre zurücklag und sich im belagerten Leningrad zugetragen hat. Nach der Feier fragte mich meine Mutter, wie es mir gefallen hat. Ich war begeistert, musste aber auch etwas loswerden. „Das war ja gar nicht der echte Ded Moros“, protestierte ich. Mama machte große Augen und wollte wissen, wo ich denn den „echten“ gesehen hätte. „Na bei dir im Krankenhaus, hast du das etwa vergessen?“, antwortete ich.

Geschenke von Ded Moros

Meine Mutter war im Krieg Krankenschwester gewesen. Und in einem der eisig kalten Kriegswinter hatte man in ihrem Krankenhaus beschlossen, ein kleines Neujahrsfest für die Kinder der Mitarbeiter auszurichten. Man wickelte mich also so warm ein, wie es eben ging, und nahm mich mit zu der psychiatrischen Klinik am Moika-Kanal. An Ausziehen war dort gar nicht zu denken, die Wände waren mit Raureif bedeckt. Dafür aber gab es einen mit Papierfähnchen geschmückten Tannenbaum, Ringelreihen, Gedichte und am Ende Geschenke von Ded Moros: drei, vier Vitamin-C-Tabletten und einen Bonbon. Den Bonbon habe ich zu Hause mit meinem älteren Bruder in zwei Hälften geteilt. In heißem Wasser aufgelöst, war er für mehrere Gläser eines Getränks gut, welches wir Tee nannten.

Das ist meine erste Kindheitserinnerung. Der Ded Moros aus dem Krankenhaus blieb für mich der „echte“, bis ich sechs, sieben Jahre alt war.

125 Gramm Brotersatz pro Tag

Was wir im Leningrad der Blockade miterlebten mussten, war die Hölle. Kälte, Hunger, Bomben, Ratten… Wir legten uns abends schlafen und wussten nicht, ob wir morgens überhaupt wieder aufwachen würden. Wenn wir mit unseren Eltern aus dem Haus gingen, mussten wir auf der Straße über Leichen steigen. Die Brotration sank teilweise auf 125 Gramm pro Tag. Und das war ja noch nicht mal Brot, sondern Brotersatz, mit Zellulose und anderen Zutaten, die einen ganz geringen Nährwert hatten. Kannibalismus war keine Seltenheit. Und das nicht etwa deshalb, weil die Russen solche Barbaren sind. Nein!!! Denken Sie an „Don Juan“ von Lord Byron. Die schiffbrüchigen Seeleute werden zu Kannibalen und essen den Lehrer. Der Hunger treibt Menschen zum Wahnsinn.

Bei seiner Rede im Bundestag hat der Schriftsteller Daniil Granin erzählt, wie eine Mutter während der Blockade mit dem Leichnam einer Tochter die andere Tochter durchgefüttert und gerettet hat. Wäre das nicht Granin gewesen, den ich persönlich kannte, ich hätte es nicht geglaubt. Aber es war eben eine schreckliche Zeit. Wenn die Mitglieder meiner Organisation davon sprechen, was Ihnen damals widerfahren ist, dann versagt ihnen oft die Stimme, kommen ihnen die Tränen. Dass wir überlebt haben, ist nicht unser Verdienst, sondern das Verdienst unserer Mütter und Großmütter. Die Männer waren ja an der Front.

Das Opfer der Großtanten

Mit uns in einer Wohnung lebten auch zwei Großtanten von mir. Die haben meinem Bruder und mir von dem winzigen Stück Brot, das ihnen zustand, jeweils die Hälfte abgegeben. Eine ist am 16. Februar 1942 gestorben, die andere zwei Tage später. Um sie nicht nach draußen tragen zu müssen, wo sich die Toten stapelten, und damit den Ratten zum Fraß vorzuwerfen, lagen sie in einem Nebenraum, bis sie abgeholt und auf dem Piskarjowo-Gedenkfriedhof beigesetzt wurden. Solange mein Bruder noch lebte, sind wir gemeinsam vor ihrem Grab auf die Knie gefallen und haben uns im Andenken an sie verneigt. Wer weiß, wie es uns ohne ihr Opfer ergangen wäre. Dafür gab es keine Orden und Medaillen. Aber für mich sind das Heldentaten.

Mitglied in meiner Organisation „Blockadekinder – 900“ kann nur werden, wer nachweist, dass er die gesamte Zeit der Belagerung in Leningrad verbracht hat. Das ist eine relativ überschaubare Gruppe. Wir haben 1200 gemeldete Mitglieder, aber wahrscheinlich sind es nach jetzigem Stand sogar ein paar hundert weniger. Fast alle sind schwerbeschädigt, so wie ich. 900 Tage Blockade zu überleben und keine gesundheitlichen Schäden davonzutragen, das ist unmöglich.

„Nach Wegen der Verständigung suchen“

Dass Deutschland nur die jüdischen Opfer der Blockade finanziell entschädigt hat, ist befremdlich. Wir werden sicher nicht um irgendetwas betteln, aber diese Leistungen auch auf Opfer anderer Nationalitäten auszudehnen, wäre ein Schritt, den man hier zu schätzen wüsste. Dabei bin ich dafür, den Begriff des „Blokadniks“ zu differenzieren. Es macht einen großen Unterschied, ob jemand beispielsweise 1942 aus Leningrad evakuiert wurde oder bis zum Schluss in der Stadt bleiben musste. Alle über einen Kamm zu scheren, entbehrt jeder Logik.    

Ich bin der deutschen Regierung sehr dankbar für die „Humanitäre Geste“. So eine Unterstützung erleichtert es mir, mit unseren Mitgliedern zu reden, die die Gräueltaten der Blockade bis heute nicht vergessen können. Deutsche und Russen müssen nach Wegen der Verständigung suchen, damit unseren Kindern ein ähnliches Schicksal erspart bleibt, Deutschland und Russland sollten den Kampf gegen einen drohenden dritten Weltkrieg anführen. Wie heißt es doch so schön in Schillers Ode „An die Freude“? „Alle Menschen werden Brüder, wo Dein sanfter Flügel weilt.“

Danke, dass Sie mich so geduldig angehört haben. Kommen Sie unbedingt mal bei uns in St. Petersburg vorbei. Viel Glück und (sagt es auf Deutsch – die Red.) auf Wiedersehen!

Aufgeschrieben von Tino Künzel.

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