
Auf allen Plakaten in Russland stehen während der Feiertage die Daten: 1941–1945. Es ist klar, dass der Zeitraum mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion beginnt. Aber es scheint so, dass sich die Russen nicht besonders für den Beginn des Zweiten Weltkriegs interessieren. Warum eigentlich?
Ja, genau diese Daten sind auf den Plakaten zu sehen. Sie sind im Gedächtnis von Generationen verankert. Auf Videoplattformen kann man leicht Videos finden, deren Autoren Schüler und Studenten auf der Straße befragen. Wenn man sie nach dem Beginn des Zweiten Weltkriegs fragt, antworten viele selbstbewusst: 22. Juni 1941. Hierfür gibt es zwei Gründe. Der erste ist die historische Tradition. In Russland haben die vaterländischen Kriege einen besonderen Stellenwert. Das ist etwas, das die Russen betrifft. Der Große Vaterländische Krieg von 1941-1945 geht sie definitiv etwas an, während über den Anschluss Österreichs, die Angriffe auf London und Coventry oder den Krieg im Pazifik die einfachen Menschen in Russland, nicht die Spezialisten, viel weniger wissen. Das ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Das Gleiche gilt für den Vaterländischen Krieg von 1812. Die Schlacht auf dem Borodino-Feld und Napoleon in Moskau: ja, das wissen wir. Die Völkerschlacht bei Leipzig: Was war das?
Der zweite Grund ist, dass sich das Land in diesen Jahren, beginnend mit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, auf der richtigen Seite der Geschichte wiederfand. Zumindest einige von denen, die vom Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der UdSSR gehört haben, wissen von den geheimen Protokollen zu diesem Vertrag. Und von der gemeinsamen Parade in Brest. Doch am 22. Juni 1941 änderte sich die Welt für die Sowjetbürger. Die Ereignisse nach diesem Datum sind keine schönen Erinnerungen. Aber die Erinnerung daran ist moralisch viel angenehmer als die Vorkriegsgeschichte mit Hitlerdeutschland.
Der Krieg hatte viele Väter. Wie unterschied sich Stalin von Hitler?
Die Persönlichkeit Stalins und seine Taten gehören in ein eigenes Gespräch, vor allem angesichts seiner „schleichenden Rehabilitierung“ in jüngster Zeit. Getrennt davon spricht man in Russland auch von „Vätern“. Historiker erinnern nicht nur an den Hitler-Stalin-Pakt, sondern auch an das Münchner Abkommen. Die Beschwichtigung eines Diktators im Allgemeinen ist eine gefährliche Angelegenheit. Aber ich muss an der Stelle nochmals an die russische Sichtweise erinnern: Im russischen Paradigma (Vaterländischer Krieg von 1941 bis 1945) ist alles klar: Sie griffen an, wir verteidigten uns.
Außerdem gibt es neben Stalin und anderen Parteibonzen auch das Land und die Menschen. Meine Großmutter Sofia stammte aus Berschad im Süden der Ukraine. Im Jahr 1941 beherrschten die Rumänen die Stadt, Berschad wurde Teil von Transnistrien. In dieser Stadt mit starker jüdischer Bevölkerung entstand ein Ghetto. Meine Oma entkam einem schrecklichen Schicksal. Sie war bereits mit meinem Opa verheiratet, und bevor der Krieg begann, zogen sie nach Moskau, das für sie zu einem Zufluchtsort und einem Zuhause wurde. Vielleicht hatte der Krieg viele Väter, sicherlich war Stalin ein Monster, aber die einfachen Menschen, Russen und nicht nur sie, die Anfang der 1940er Jahre neben meinen Vorfahren lebten und arbeiteten, standen definitiv auf der richtigen Seite.
Die Deutschen haben ihre Geschichte gründlich aufgearbeitet, die Russen aber nicht. Warum lernen die Russen nicht aus den Fehlern der Vergangenheit?
Die Einstellung zur Geschichte in Russland ist eigenartig, sie wird je nach politischem Kurs immer wieder neu geschrieben. Zu verschiedenen Zeiten wird die Geschichte von der Gesellschaft unterschiedlich aufgearbeitet. Darüber hinaus haben die verschiedenen Gruppen, aus denen sich die russische Gesellschaft zusammensetzt, ihre eigenen Hintergründe. So wurden beispielsweise Tschetschenen und Inguschen 1944 deportiert. Ihre Erfahrungen unterscheiden sich etwas von dem, was zum Beispiel die Menschen in Smolensk wissen und erlebt haben.
Viele lernen ihre Geschichtslektionen aus den Erfahrungen ihrer Familie. Das ist nichts, was normalerweise in Lehrbüchern steht. Ich erinnere mich, wie mir meine Verwandten zu meiner Aufnahme an der Philologischen Fakultät der Lomonossow-Universität, Abteilung für die Deutsche Sprache, gratulierten. Mein Onkel erinnerte sich in diesem Zusammenhang daran, wie er als Dolmetscher den Italienern von Fiat half, die Anfang der 1970er Jahre in Moskau ein Lada-Servicezentrum bauten. Und mein Vater erzählte, wie er 1957 bei den Internationalen Jugend- und Studentenfestspielen aus dem Englischen übersetzte. Und plötzlich sagte mein Opa, der sein ganzes Leben lang als Frisör gearbeitet hatte, dass auch er als Dolmetscher fungieren musste. An der Front. Seine Muttersprache war Jiddisch, also konnte er sich den deutschen Gefangenen irgendwie erklären. Opa gab die Art und Weise wieder, wie er sich verständigte – in einfachen Sätzen. Dann fügte er hinzu: „Ich sagte ihnen leise: Sag ihnen, dass du ein Arbeiter bist, ein Sozialist.“ Auf diese Weise gab es eine bessere Überlebenschance in der Gefangenschaft.
Das war unerwartet. Ich fragte den Opa, ob er wusste, was mit ihm in der deutschen Gefangenschaft passiert wäre. Er wusste es und machte sich keine Illusionen: Opa Solomons ganzes Auftreten verriet einfach seine Nationalität. Auf die Frage, warum er den gefangenen Deutschen half, murmelte er etwas davon, dass man von den hirnlosen Jungen (er selbst war älter, Jahrgang 1909) nichts anderes erwarten konnte. Man drückte ihnen ein Gewehr in die Hand und schickte sie an die Front. Sie haben nichts begriffen. Er sagte das und wechselte das Thema des Gesprächs. Ich war damals schockiert.

Zwei Jahre später, als Universitätsprofessoren uns vom europäischen Humanismus erzählten, von Petrarca, Erasmus von Rotterdam und Ulrich von Hutten, erinnerte ich mich an einen jüdischen Frisör aus Konotop in der Ukraine, meinen Großvater Solomon. Das Maß aller Dinge ist der Mensch, so haben es die großen Denker der Renaissance formuliert. Und so ist es auch. Die Geschichte, die mein Opa erzählte, wurde für mich zu einer der wichtigsten Lektionen über Krieg, Leben und Menschlichkeit. Obwohl persönliche Erfahrungen die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer öffentlichen Diskussion und Bewertung dieser oder jener Ereignisse nicht aufheben, bestimmen sie doch vieles im Leben.
Warum der 9. Mai und nicht der 8. Mai, wie anderswo?
Das ist bei den Feiertagen in Russland immer der Fall. Die russischen Orthodoxen feiern die christlichen Feiertage getrennt von den westlichen Christen. Europa und das säkulare Russland richten sich nach dem Gregorianischen Kalender, während die orthodoxe Kirche weiterhin den Julianischen Kalender verwendet. Was den Tag des Sieges betrifft, so ist es eine Frage des Timings. Die bedingungslose Kapitulation Deutschlands wurde am 8. Mai 1945 um 22:43 Uhr mitteleuropäischer Zeit in den Vororten von Berlin unterzeichnet. In Moskau war es damals der nächste Tag. In der Sowjetunion wurde der Feiertag am 9. Mai begangen, in Russland hält man an dieser Tradition fest.
Betrachtet man, was die Menschen feiern, so ist der sowjetische Tag des Sieges in vielerlei Hinsicht dem Tag der Befreiung sehr ähnlich. Ich habe die Veteranen getroffen, als sie noch in großer Zahl und mit klarem Gedächtnis waren. Für sie bedeutete der Sieg absolut nicht, einen sportlichen Wettkampf zu gewinnen. Es war „Freude mit Tränen in den Augen“: Freude darüber, dass der schreckliche Krieg vorbei war und man nicht mehr in den Tod gehen musste. Der Sieg war damals definitiv eine Befreiung.
Warum wird dieser Tag in Russland überhaupt so groß gefeiert?
Der 9. Mai war immer einer der wichtigsten Feiertage, allerdings mit einer Einschränkung. In den ersten beiden Jahren nach Kriegsende war der 9. Mai ein arbeitsfreier Tag aber dann wurde dieser Tag bis 1965 nicht als nationaler Feiertag begangen. Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre versammelten sich ständig Veteranen vor dem Bolschoi-Theater in Moskau, die ganze Stadt war mit Plakaten behängt, und im Fernsehen wurden Filme über den Zweiten Weltkrieg gezeigt. Heute ist alles so wie früher, nur ohne Veteranen. Es sind kaum noch Veteranen da.
Aber einen Feiertag gibt es. Er fügt sich gut in den modernen Kontext ein und wird daher nicht weniger groß gefeiert. Außerdem stellt sich die Frage: Was gibt es zu feiern, wenn nicht ihn? Religiöse Feiertage wurden in der Sowjetunion nicht groß gefeiert. Selbst heute erreichen religiöse Feierlichkeiten nicht das Ausmaß des Tages des Sieges. Die sowjetischen Feiertage gehören der Vergangenheit an, und die neuen haben sich irgendwie nicht durchgesetzt.
Aber die Frage ist, wie man diesen Tag feiern soll. Als ich ein Junge war, habe ich jeden 9. Mai meine Großeltern besucht. Jetzt sind sie nicht mehr da. Ich kann sie nicht mehr fragen, wie sie gelebt haben und wie sie sich gefühlt haben. An diesem Tag setze ich mich vor meinen Computer und lese die Erinnerungen der Veteranen. Ich lese über verschiedene Zeitzeugen und ihre Schicksale, um diese Menschen und ihre Epoche besser zu verstehen.