„Leopoldstadt“ ist bereits das vierte Stück des Russischen Akademischen Jugendtheaters (RAMT), das aus der langjährigen Zusammenarbeit mit Tom Stoppard hervorgegangen ist, diesem lebenden Klassiker und Inbegriff des modernen Theaters. Zehn Jahre gehörte „Die Küste Utopias“ zum Repertoire, „Rock ’n’ Roll“ war mehr als erfolgreich, gegenwärtig steht auch „Das Problem“ auf dem Spielplan. Als „echtes Glück“ bezeichnet Alexej Borodin, der künstlerische Leiter des Theaters, gegenüber RIA Nowosti die Tatsache, dass man in Stoppard „unseren Autor“ gefunden habe, verwandt im Geiste, in der Weltsicht. Es habe sich eine „enge freundschaftliche Bindung“ entwickelt, die der gemeinsamen schöpferischen Arbeit sehr zugutekomme.
In Teilen biografische Handlung
Stoppard vollendete „Leopoldstadt“ im Jahr 2019 und schickte das Stück umgehend nach Moskau. Doch die Corona-Pandemie und der Konflikt in der Ukraine sorgten dafür, dass es erst vier Jahre später auf die Bühne kam. Der Dramatiker hielt an seiner Zusammenarbeit mit dem Moskauer Theater fest, konsultierte aus der Ferne. Die Premiere fand im Sommer dieses Jahres im Rahmen des Festivals „Kirschwald“ statt.
Die Handlung ist in Teilen biografisch gefärbt: Tom Stoppard entstammt einer Familie tschechischer Juden, geboren wurde er 1937 als Tomáš Sträussler in der Kleinstadt Zlin. Den Namen Leopoldstadt hat sich der Autor nicht ausgedacht: So heißt ein Innenstadtbezirk von Wien, wo sich historisch besonders viele Juden ansiedelten.
Das Geschehen auf der Bühne deckt einen Zeitraum von etwa 50 Jahren ab, beginnend 1899. Die wohlhabende und angesehene Familie Merz hat sich versammelt, um Silvester zu feiern. Hermann Merz, das Familienoberhaupt, befindet sich auf dem Gipfel des Erfolgs. Seine Fabrik floriert, er geht in den besten Häusern Wiens ein und aus, ein Porträt seiner Frau wird vom berühmten Gustav Klimt gemalt. Merz verleugnet seine Wurzeln nicht, aber versucht, über den Tellerrand seiner jüdischen Identität hinauszublicken. Er heiratet eine Katholikin, lässt seine Sohn taufen, begeht alle „europäischen“ Festtage. Für die Kinder sind die Grenzen fließen. Der Kleinste bringt alle zum Lachen, indem er den Weihnachtsbaum mit einem Davidstern schmücken will.
Der Esstisch als Zentrum des Universums
Praktisch alle Szenen von „Leopoldstadt“ finden in einem einzigen Raum statt. Am riesigen Esstisch ist Platz für jeden. Alle Probleme, Sorgen und Freuden kommen ebenfalls auf den Tisch. Das Theaterstück handelt zwar vom Holocaust, doch nicht in Form grausamer Bilder und trauriger Musik, die zu Tränen rührt. Der Genozid an den Juden ist hier die Gewöhnlichkeit des Bösen.
In den 1930er Jahren verliert die Familie zusehends an Einfluss. Als Juden dürfen sie andere Stadtbezirke nicht mehr betreten, verlieren ihre Arbeit, werden nicht mehr gegrüßt. Man stellt sie kalt, erniedrigt sie, beraubt sie aller Rechte. Hermann Merz muss schließlich seine Fabrik dem Staat übereignen.
Das Schicksal der großen, lärmenden Familie ist besiegelt. Die meisten Mitglieder sterben in Auschwitz, Dachau, Buchenwald. Nur drei überleben den Krieg, die Enkel von Hermann Merz, darunter das Alter Ego von Stoppard. Am Ende des Stücks kommen sie zusammen, um zu verstehen, wie sie weiterleben und neue Wurzeln schlagen können. Wieder sitzen sie an dem riesigen Esstisch, doch es sind die Schatten ihrer selbst, ein Abglanz der schillernden Vergangenheit, der langsam verschwindet. Zurück bleiben nur die erloschenen Kerzen auf dem Tisch.
Ljubawa Winokurowa