Von Alina Bertels
Rschew ist eine russische Kreisstadt an der Wolga, gut 200 Kilometer westlich von Moskau. Sie hat heute 60.000 Einwohner, annähernd so viele waren es auch am Vorabend des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Im März 1943, nach 17 Monaten deutscher Besatzung und verheerenden Kämpfen, die als Schlacht von Rschew in die Geschichte eingegangen sind, lebten in der Stadt noch 150 Menschen.
Dietrich Schöning hat dieses Grauen als Wehrmachtssoldat miterlebt. Heute engagiert sich der Westfale im „Kuratorium Rshew“, einer Organisation, gegründet von Angehörigen des ehemaligen Bielefelder Infanterieregiments 18, für deutsch-russische Verständigung. Zum 75. Jahrestag des Angriffs auf die Sowjetunion stattete er der Kleinstadt seinen 23. Besuch ab. Anschließend reiste der inzwischen 97-Jährige nach Moskau weiter. Dort wurde er an der Deutschen Schule von den Teilnehmern der Projekttage „Erinnern, Gedenken, Versöhnen“ zur Schlacht von Rschew erwartet.
Schöning schilderte den Jugendlichen, die an der Deutschen Schule Moskau, am Dr. Sulzberger Gymnasium im thüringischen Bad Salzungen und an der Schule Nummer 12 in Rschew lernen, wie er im Krieg gekämpft und gelebt hat und letztlich in sowjetische Gefangenschaft geriet. „War ihnen bewusst, welche Schandtaten im Zweiten Weltkrieg von deutscher Seite begangen wurden?“, wollte einer der Schüler wissen. Schöning antwortete, im Krieg habe man über solche Dinge nicht gesprochen, „auch wenn Sie sich das vielleicht jetzt nicht vorstellen können“.
Gesprochen hat er über seine Kriegserfahrungen auch nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft zunächst nicht, erzählt Schönings Tochter, die in der Deutschen Schule ebenfalls anwesend ist. Erst ein halbes Leben später, als ihr Vater 1993 im „Kuratorium Rshew“ mitzuarbeiten begann, hörte sie aus seinem Munde etwas über eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs.
Das Treffen mit Dietrich Schöning war einer der Eckpfeiler des Geschichtsprojekts, das von der Deutschen Botschaft, der Russischen Biografischen Gesellschaft, der Russischen Militärgesellschaft und dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unterstützt wurde. Auf einer gemeinsamen Fahrt nach Rschew trafen die Schüler dann auch mit russischen Kriegsveteranen zusammen. Die Ortsfremden unter den Jugendlichen waren in Gastfamilien untergebracht und sehr berührt von der herzlichen Aufnahme. Emotionalster Moment jedoch: Die Projektteilnehmer besuchten den deutsch-russischen Soldatenfriedhof, legten Blumen im Gedenken an die Kriegsopfer nieder, sangen gemeinsam ein Lied. „Da ist den Schülern so richtig bewusst geworden, worum es in unserem Projekt geht“, sagt Robert Kieschnick, Geschichtslehrer an der Deutschen Schule Moskau. Das Wochenende in Rschew sei der inhaltliche Höhepunkt des Programms gewesen und habe seine Erwartungen sogar noch übertroffen.
Auch Schülerin Mari Iwane aus Bad Salzungen hat viel aus dem Projekt für sich mitgenommen, sagt sie. Zum Beispiel ein Verständnis für die unterschiedlichen Erinnerungskulturen, was den Krieg betrifft: In Deutschland gedenke man eher still „und der Holocaust spielt meist eine zentrale Rolle“. Anders in Russland, wo „große Feierlichkeiten stattfinden, die das Kriegsende, den Frieden und die Veteranen als Kriegshelden in den Mittelpunkt stellen“, meint sie.
Hohen Besuch erhielt das Projekt gleich bei seiner Eröffnungsveranstaltung. Der russische Präsident Wladimir Putin schaute an der Deutschen Schule vorbei, wo einst seine Töchter unterrichtet wurden, er folgte einer entsprechenden Einladung. Putin stellte sich den Fragen der Schüler, lobte in einer Ansprache die Projektinitiative als beispielgebend: Mit solchen Begegnungen würden die „Werte des Humanismus, der Offenheit und der Zusammenarbeit“ in den Köpfen der Jugendlichen verankert.