Die Gesellschaft ist gefragt

Wie heute über den Staatsterror der 1930er Jahre in der Sowjet­union sprechen? Beim „Memory Forum“, das im Vorfeld des Gedenktages für die Opfer politischer Verfolgungen im Moskauer Gulag-Museum stattfand, ging es vor allem darum.

Welche Rolle soll künftig der Schießplatz von Butowo spielen? (Foto: AGN Moskwa)

Diesen Sommer verschwanden in Moskau und St. Petersburg Dutzende Schilder der „Letzten Adresse“, einer Art russischer Stolpersteine. Was nach Medienberichten auch verschwand, war das eine oder andere Denkmal für die Opfer politischer Verfolgung in verschiedenen Regionen des Landes. Organisationen, die sich mit der Bewahrung des Gedenkens an die Opfer des Staatsterrors beschäftigen, werden liquidiert oder als „ausländische Agenten“ eingestuft. Vor einem Jahr wurde im Gebiet Swerdloswsk ein Kinderbuch verboten, das von der Deportation der Russlanddeutschen erzählt, und das Verbot ist bis heute nicht aufgehoben. In Welikije Luki steht seit einigen Monaten ein stattliches Stalindenkmal.

Der Kontext verändert sich zusammen mit den Generationen. Menschen, die politische Verfolgung in der Sowjetunion am eigenen Leib erlebt haben und die davon berichten könnten, sterben aus. Die Zeiten ändern sich. Wir leben in einer Epoche der Katastrophen, von denen die tragischen Ereignisse der 1920er bis 1940er Jahre in den Hintergrund gedrängt werden. Doch Tatsache bleibt: Rund 5,8 Millionen Menschen wurden Opfer „administrativer Verfolgung“, die sich gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen richtete. Zwischen 4,7 und 5 Millionen Menschen wurden aus politischen Gründen verhaftet, davon wurde ungefähr eine Million erschossen. Es ist wichtig, der Opfer zu gedenken. Über den Staatsterror muss gesprochen werden.

Wie spricht man über den Staatsterror?

Aber wie soll das passieren? Im Gulag-Museum kamen Menschen aus ganz Russland zusammen, die ihre Kraft auch im Alltag dem Gedenken an die Opfer von Verfolgung widmen. Ob in Schulen und Hochschulen, im Internet, in Museen oder bei gemeinnützigen Organisationen. An den Diskussionen nahmen auch Fachleute teil, die zurzeit im Ausland leben. Alle sprachen von der Notwendigkeit eines Raums für das Gespräch über den Staatsterror.

Ihn gibt es teilweise. Zu den Schildern der „Letzten Adresse“ sei das Verhältnis der Unterstützer des Projekts „leidenschaftlicher“ geworden. So sagt Irina Drobinskaja, eine Aktivistin der „Letzten Adresse“. Seit dem 24. Februar 2022 bringt man öfter Blumen zu den Gedenkstätten für die Opfer von Verfolgungen, erzählt Irina Fliege, die zu Massengräbern aus Stalinzeiten forscht. „Opfer der heutigen Regime kommen zu den Opfern des Stalinschen Terrors“, meint sie.

Historikerin Irina Fliege, Mitarbeiterin des Gulag-Museums Tamara Tschernakowa bei der Diskussion (Foto: Gulag-Museum)

Der Geistliche Kirill Kaleda schlägt vor, Orte der Trauer und des Schreckens wie den Schießplatz von Butowo und den Friedhof im Stadtteil Kommunarka in Gedenkstätten wie das Kulikowo- und das Borodino-Schlachtfeld und das bei Prochorowka im Gebiet Kursk umzuwandeln. Seiner Meinung nach braucht es ein Gesetz für solche Grabstätten. „Es ist sehr bedauerlich, dass unserer Gesetzgeber nicht dazu bereit ist“, so Kaleda. „Ja, der Staat muss das Andenken bewahren, aber es ist die Gesellschaft, die das auch einfordern muss“, mahnt der Anthropologe Denis Peschemski. Sein Appell: „Lasst uns eine Zivilgesellschaft sein!“

Olga Silantjewa

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