70 Jahre nach dem Tod von Josef Stalin erfährt zumindest der Ruf des Sowjetherrschers die eine oder andere Wiederbelebungsmaßnahme. Nicht der Ruf von 1956 natürlich, als auf dem 20. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion sein „Personenkult“ von Nachfolger Nikita Chruschtschow angeprangert wurde. Und auch nicht der von 1961, als eine dezidierte „Entstalinisierung“ begann. In der Perestroika, als auch die unbequemen Seiten der eigenen Geschichte spruchreif wurden, erhielt sie weiteren Auftrieb.
Bild hat sich gewandelt
Doch speziell in den letzten 20 Jahren hat sich die Sicht auf Stalin in Russland schleichend gewandelt, ohne dass etwa neue Fakten bekannt geworden wären. Seine politische Bilanz wird nur anders gewichtet: Statt der „Säuberungen“ der 1930er Jahre, der Zwangsumsiedlung ganzer Völker, der Opfer der Kollektivierung und des Gulag stehen nun der Sieg im Zweiten Weltkrieg, die Industrialisierung und der Aufstieg der Sowjetunion zur Weltmacht im Vordergrund. Ein überarbeitetes Geschichtslehrbuch für die obersten Klassenstufen, nach dem seit 1. September unterrichtet wird, betont in diesem Sinne die Verdienste und ist nur das jüngste Beispiel für eine Aufhellung des Stalin-Bilds.
Öffentlich ist das noch nicht besonders sichtbar. Weil etwa die meisten Straßennamen aus sowjetischer Zeit stammen, ist Lenin nach wie vor die große Konstante und Dominante. Nach Stalin, der damals aus dem Heldenolymp verbannt war, sind in Russland etwa zwei Dutzend Straßen benannt, so gut wie alle in kleinen Orten der nationalen Republiken im Nordkaukasus. Auch bildhauerisch ist Stalin bis in jüngste Zeit höchstens in Büsten verewigt gewesen, meist in musealem Kontext. Ein ausgewachsenes Denkmal im öffentlichen Raum war tabu.
Keiner wollte Denkmal haben
Diese Erfahrung musste auch eine Stiftung namens „Russischer Recke“ machen, die Stalin in Bronze gießen ließ und erst in Wolgograd, später an anderen Orten aufzustellen versuchte. Überall hätten die regionalen Behörden eine Genehmigung verweigert, hieß es gegenüber den Medien. Deshalb wurde das bereits seit vier Jahren fertige und acht Meter hohe Denkmal nun Mitte August in der westrussischen Stadt Welikije Luki auf dem Gelände einer Firma für Lagerregale eingeweiht, gleich gegenüber dem Haupteingang. Die Arbeiter hätten ihren Wunsch zum Ausdruck gebracht, „jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit das Denkmal für Josef Stalin zu sehen“, sagte der stellvertretende Stiftungsvorsitzende und Dokumentarfilmer Wladimir Parschikow.
Welikije Luki ist eine Stadt ungefähr auf halbem Wege zwischen Moskau und Riga. Sie hat 86.000 Einwohner und war im Zweiten Weltkrieg knapp anderthalb Jahre von den Deutschen besetzt. Die Gegenoffensive der Roten Armee fand zeitgleich mit der in Stalingrad statt, wie dort geriet die Wehrmacht auch in Welikije Luki in einen Kessel. Unter großen Opfern auf beiden Seiten wurde wie in Stalingrad um jedes Haus gekämpft. Am 17. Januar 1943 war die Stadt befreit.
„Akt historischer Gerechtigkeit“
Bei der Eröffnungszeremonie des Stalin-Denkmals wurde die Sowjethymne gespielt, wurden Sowjetfahnen geschwenkt und flammende Reden gehalten. Den Anfang machte Sergej Baburin, ein früherer Duma-Abgeordneter und Präsidentschafts-Kandidat von 2018 (0,65 Prozent). Der Ex-Mitbegründer des „Russischen Marsches“ ist heute Vorsitzender einer Bewegung unter dem Titel „Russischer Volksbund“. Stalin, sagte er in Welikije Luki, sei ein „Symbol für die Beseitigung des Analphabetentums, der kulturellen Revolution, der Errichtung einer leistungsfähigen Industrie und Landwirtschaft“, sein Name stehe für den „Triumph der Wissenschaft“. Die Einweihung des Denkmals war für Baburin ein „einzigartiges geschichtliches Ereignis“.
Von einem „Akt historischer Gerechtigkeit“ sprach in diesem Zusammenhang die bekannte Schauspielerin Maria Schukschina. Als bekennende Christin könne sie sich nur wundern, wenn ihr die Frage gestellt werde, wie das zu ihrer Verehrung für Stalin passe. Schließlich habe der die Kirchenverfolgung „praktisch gestoppt“. Mehr noch, viele Geistliche hielten Stalin für „gottgewollt“. Ein orthodoxer Priester segnete nun auch das Denkmal, wenngleich aus eigenem Antrieb und nicht im Auftrag der Kirche, die sich davon distanzierte.
Schukschinas Großvater wurde in der Stalinzeit erschossen. Sie selbst nennt Stalin den „meistverleumdeten“ Menschen in der russischen Geschichte, höchstens noch übertroffen von Iwan dem Schrecklichen. Beide hätten erfolgreich gegen innere und äußere Feind gekämpft.
Mehrheitlich positive Meinung
So oder so ähnlich scheinen das viele in Russland zu sehen. Im August landete Stalin bei einer repräsentativen Umfrage der Forschungsgruppe Russian Field nach den populärsten russischen Führern der Vergangenheit auf Platz drei, hinter Peter dem Großen und Katharina der Großen. 65 Prozent der Befragten gaben an, eine positive Meinung von ihm zu haben, negativ äußersten sich nur 20 Prozent. Schlusslichter: Michail Gorbatschow und Boris Jelzin mit lediglich 19 beziehungsweise 17 Prozent Zustimmung. Die repräsentative Umfrage in Auftrag gegeben hatte die Agentur für Politische und Wirtschaftliche Kommunikationen. Deren Chef Dmitri Orlow sagte dem „Kommersant“, der dritte Platz von Stalin sei eine Sensation: Eigentlich habe man ihn ganz vorn erwartet.
Im Frühjahr 2019 hatte das Lewada-Zentrum (in Russland als „ausländischer Agent“ gelistet) erstmals eine mehrheitlich positive Einstellung zu Stalin im Lande fixiert. 51 Prozent antworteten damals, ihr Verhältnis zu ihm ließe sich mit Bewunderung, Achtung oder Sympathie beschreiben. In den Vergleichsjahren seit 2001 hatte der Wert zwischen 30 und 40 Prozent gelegen, mit Ausnahme des Jahres 2012, als er auf 28 Prozent fiel.
In einer weiteren Lewada-Umfrage vom Frühjahr 2021 erklärten sich 56 Prozent der Befragten ganz oder teilweise mit der These einverstanden, Stalin sei einer „großer Führer“ gewesen. Bei einer fast zeitgleichen Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie in der Ukraine vertraten diese Auffassung nur 16 Prozent.
„Stalin-Zentrum“ im Bau
Die Stiftung „Russischer Recke“ sieht derweil ihre Mission mit der Aufstellung des Denkmals in Welikije Luki nicht als beendet an. Das Projekt „Generalissimus des Sieges“ soll weitergehen. Ein nächstes Denkmal ist in der sibirischen Gemeinde Turuchansk am Jenissej geplant. Dort war Stalin von 1913 bis 1916 in der Verbannung. In sowjetischer Zeit wurden hier Arbeitslager errichtet. Auch aus ihrer Heimat vertriebene Wolgadeutsche gelangten 1941 nach Turuchansk. Nördlich des Dorfes gab es schon einmal ein Stalin-Denkmal, doch das habe die „Chruschtschow-Clique“ 1961 abgerissen, so die Stiftung.
„Gerechtigkeit“ soll Stalin unterdessen auch an anderer Stelle widerfahren. In Bor bei Nischni Nowgorod lässt ein Unternehmer und Kommunist auf seinem Grundstück gerade ein „Stalin-Zentrum“ bauen.
Tino Künzel