Etwa 700 000 Schüler legten in diesem Jahr die russische staatliche Abschlussprüfung ab. Die meisten von ihnen haben in den russischen Schulen nach den vom Bildungsministerium anerkannten Ausbildungsprogrammen gelernt. Die vom Ministerium empfohlenen Lehrbücher sind ein Teil dieser Programme und damit bestimmt die meistgelesenen Bücher, die in russischer Sprache erscheinen.
Doktor in Geschichte
Das gilt auch für die neuen Geschichtslehrbücher für die 10. und die 11., also die obersten Klassenstufen, auf denen der Name von Wladimir Medinski steht. Der Leiter der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft hat schließlich den Doktortitel in Geschichte, was renommierte Wissenschaftler allerdings ungerecht finden. Eine Portion heftiger Kritik war den Lehrwerken auf jeden Fall garantiert, aber die Texte selbst haben es auch eindeutig verdient.
Josef Stalin …
Einer der am meisten diskutierten Aspekte im Lehrbuch war die Rolle von Josef Stalin. Laut dem wissenschaftlichen Leiter der Russischen Militärhistorischen Gesellschaft, Michail Mjagkow, „stellt das neue einheitliche Lehrbuch zur Geschichte Russlands objektiv die Rolle Josef Stalins im Leben des Landes dar. Seine Figur wird nicht mehr einseitig dargestellt, wie es in den Lehrbüchern der 1990er-2000er Jahre der Fall war.“ In diesen Büchern wurde Stalin als „ein Tyrann, eine Bestie, ein inkompetenter Befehlshaber, der den Feind mit Leichen überhäufte“, dargestellt. Das neue Lehrbuch konzentriert sich auf andere Aspekte. So z. B. schrieb Josef Stalin Artikel zu wissenschaftlichen Problemen, in denen er „die Vorteile des sowjetischen Wirtschaftssystems“ und „die Minderwertigkeit und Unterlegenheit der marktwirtschaftlichen Beziehungen“ darlegte.
… und die anderen
Erwartungsgemäß bewerten die Autoren des Lehrbuchs auch den Beitrag anderer Staatsoberhäupter. Nikita Chruschtschow schenkte 1954 der Ukraine die Krim. Leonid Breschnew, der das Land 18 Jahre lang regierte, ist ein Beispiel für Nachhaltigkeit und Stabilität. Michail Gorbatschow dagegen, der sich laut den Autoren des Lehrbuchs „mit den Problemen der Industrie, der Armee und des militärisch-industriellen Komplexes schlecht und in außenpolitischen Fragen kaum auskannte“, habe eher eine negative Rolle in der Geschichte des Landes gespielt.
Einer der Hauptvorwürfe gegen den Vater der Perestroika war Glasnost. „Unter den Bedingungen des Endes aller Zensurbeschränkungen, als der Staat sich tatsächlich aus der Kontrolle über die Medien zurückzog, stürzte eine Lawine destruktiver und feindseliger Informationen über die Bürger der UdSSR herein. Es wurde als ‚Redefreiheit‘ angepriesen“. Boris Jelzin wird im neuen Lehrbuch natürlich mit den wirtschaftlich schwachen 1990er Jahren in Verbindung gebracht.
Globale Konfrontation
Die Betonung der „destruktiven und feindseligen“ Einflüsse aus dem Ausland ist kein Zufall. Das Konzept des Lehrbuchs basiert auf der Idee der ständigen Bedrohung durch den kollektiven Westen, die sowohl vor 150 Jahren als auch vor 50 Jahren existierte und auch heute noch nicht verschwunden ist.
Die Idee der externen Bedrohung hilft, die Menschen zu vereinen, die verschiedene historische Etappen des russischen Staates unterschiedlich bewerten. Die Sowjetzeit leugnete ideologisch, politisch, wirtschaftlich und in jeder anderen Hinsicht alle Grundlagen der russischen Gesellschaft vor 1917. Das neue Russland wiederholte diese Erfahrung weitgehend in Bezug auf die UdSSR. Das Lehrbuch vereint diese Epochen, indem es erzählt, wie Russland mehr oder weniger erfolgreich Angriffen und Druck von außen widerstand.
Nachrichten statt Geschichte
In dieses Konzept passt auch das Kapitel „Sonderoperation“. Allein das Erscheinen dieses Kapitels im Lehrbuch wird von vielen Historikern kritisiert. Sie glauben, dass dieses Material noch nicht Geschichte sei. Es gäbe noch keine grundlegenden Arbeiten von Experten, keine maßgeblichen Studien. Es sei zu früh, darüber in Lehrbüchern zu schreiben.
Offensichtlich war den Autoren des Lehrbuchs dieser Abschnitt nicht peinlich. Das Kapitel „Sonderoperation“ erhebt offenbar keinen Anspruch auf eine wissenschaftliche Aufarbeitung des Geschehens. Die Texte dieses Kapitels vermitteln inhaltlich und vom Ton her die Narrative aus zahlreichen Fernseh-Talkshows und Sendungen bekannter Moderatoren. Wenn Schulkinder nicht fernsehen, muss der Fernseher irgendwie zu ihnen kommen. Und er tut es in Form eines Geschichtslehrbuchs.
Prüfungen sind schuld
Das wird Früchte tragen. Andererseits ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass viele Schüler dieses Lehrbuch nur überfliegen. Nur sehr wenige werden die Abschlussprüfung in Geschichte ablegen, einem Fach, das für die Zulassung zu den meisten Fakultäten der russischen Hochschulen nicht erforderlich ist. Und wenn ein Fach für die Immatrikulation keine Rolle spielt, werden sich die Schüler nicht viel Mühe geben, um die neue Version der Geschichte zu pauken.
Igor Beresin