Russische „Stolpersteine“ verschwinden

Von Häuserfassaden in Moskau verschwinden Gedenkplaketten der Aktion „Letzte Adresse“. Sie wurden angebracht, um an Opfer der politischen Verfolgung in der Sowjetunion zu erinnern.

Ein Haus im Donskoj-Bezirk hat acht „deutsche“ Gedenktafeln. (Foto: Olga Silantjewa)

Der 18-jährige Kommunist Ernst Schacht emigrierte wegen politischer Verfolgung im Jahr 1922 von Deutschland nach Russland. Er erlernte das Fliegen und nahm an den Kampfhandlungen in Spanien teil. Danach erhielt er für Mut und Heldenhaftigkeit bei der Erfüllung der militärischen Pflicht den Titel „Held der Sowjetunion“. Aber im Mai 1941 wurde er als „deutscher Spion und Teilnehmer an einer antisowjetischen Verschwörung, der den Deutschen geheime Informationen über den sowjetischen Flugzeugbau übermittelt habe“ verhaftet und im Februar 1942 erschossen. Das gleiche Schicksal ereilte seine Frau Emma.

Der Ort ihrer Bestattung ist unbekannt. 2018 und 2019 brachte man am Strastnoi Boulevard 8/23, wo die Familie Schacht zum Zeitpunkt der Verhaftung wohnte, im Rahmen des Projektes „Die letzte Adresse“ Gedenktafeln an. Dieses russische Projekt ähnelt der deutschen Aktion „Stolpersteine“. Das Projekt dient dem Gedenken an jene Menschen, die in den Jahren der Sowjetmacht Opfer politischer Verfolgung wurden. Aber vor Kurzem sind die Gedenktafeln für Ernst und Emma Schacht verschwunden.

Die verschwundenen Gedenktafeln am Strastnoi Boulevard 8/23 (Foto: Ljubawa Winokurowa)

„Angriff auf das gesamte Projekt“

Und nicht nur sie. Seit Mai stellten die Aktivisten des Projektes „Letzte Adresse“ das Verschwinden einer Reihe von Gedenktafeln fest. Wie viele es genau sind, wissen nicht einmal die Organisatoren. Auf einige Anfragen, die ihnen die MDZ geschickt hatte, gab leider niemand eine Antwort. Wir fragten nach dem Schicksal der verschwundenen Tafeln und des gesamten Projektes „Die letzte Adresse“.

Drei verschwundenen Gedenktafeln (rechts) im Zentrum von Moskau. Die anderen Tafeln aber bleiben. (Foto: Olga Silantjewa)

Die Zeitung „Kommersant“ zitiert die Aktivisten der „Letzten Adresse“, die von „einem Angriff auf das gesamte Projekt sprechen und nicht nur vom Diebstahl einzelner Gedenktafeln“.

Das Mitglied der Moskauer Duma Wladimir Ryschkow von der Jabloko-Partei meint, die Polizei soll ermitteln. Er spricht von „der geplannten Aktion unbekannter extremistischer stalinistischer Organisationen“. 

Der Journalist Sergej Parchomenko (als ausländischer Agent eingestuft) schrieb auf seiner Seite in einem sozialen Netzwerk, dass mithilfe von Freiwilligen eine „grundlegende Revision aller Adressen“ durchgeführt wird, um „alles wiederherzustellen und an seinen rechtmäßigen Platz zu bringen“.

Die Gedenktafel an Leonid Tamm, den Bruder des Nobelpreisträgers Igor Tamm (Foto: Olga Silantjewa)

Insgesamt sind in Russland ungefähr 1170 Gedenktafeln angebracht worden. Die meisten davon in Moskau – 655 Stück. Die Redakteure der MDZ haben die Tafeln überprüft, die im Gedenken an Deutsche angebracht wurden. Es stellte sich heraus, dass von 29 „deutschen“ Tafeln 6 verschwunden sind.

Olga Silantjewa

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