Recht auf Erinnern: Die Projekte von Memorial*

Russlands älteste Menschenrechtsorganisation Memorial * soll liquidiert werden. Kommt es dazu, ist dies auch für viele Russlanddeutsche ein großer Verlust. Setzt sich doch die Organisation auch für die Rechte verfolgter Minderheiten ein. Mehrfach hat die MDZ in den vergangenen Jahren über die Projekte von Memorial* berichtet. Ein Überblick.

Memorial
beauftragte Russlands Ella Pamfilowa bei der „Rückkehr der Namen“ an die Opfer von Gewaltherrschaft. (Foto: AGN Moskwa)

Publikationen

Bereits 1989 wurde Memorial* erstmals verlegerisch tätig. „Requiem. Dokumentarische und künstle­rische Zeitzeugen“ hieß die erste Publikation, an der die Organisation beteiligt war. Das 32 Seiten starke Booklet über Repressionen, auch gegenüber Russlanddeutschen, war der Begleitkatalog zu einer Ausstellung des Staatlichen Kunstmuseums der Kasachischen Sowjetrepublik. Bis heute ist der Memorial-Katalog auf 888 Titel angewachsen. Einen davon hat die MDZ ausführlich besprochen.

Im Jahr 2016 erschien zum 75. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen „Reise in eine Richtung“ (Put w odin konez), das Tagebuch Dmitrij Bergmans. Memorial veröffentlichte die handschriftlichen Aufzeichnungen des Mathematiklehrers aus der Wolgadeutschen Republik. Der erste Eintrag stammt vom 30. August 1941, als die „Aussiedlung aller Deutschen“ bekannt wurde. Die Aufzeichnungen enden im Januar 1942 in einem sibirischen Dorf. Kurz darauf starb Dmitrij Bergman am 6. Februar an einer Lungenentzündung.

Schaffung einer Datenbank

Die wichtigsten Publikationen von Memorial* sind Gedenkbücher für die Opfer politischer Repressionen. Mit Unterstützung der Organisation erschienen solche Bücher in vielen russischen Regionen. Sie bilden die Grundlage für ein Online-Gedenkbuch. Am 30. Oktober 2006 erschien auf der Homepage von Memorial International* die Rubrik „Opfer poli­tischer Repressionen in der UdSSR“. Damals umfasste die Liste 1,5 Millionen Namen. 15 Jahre später waren es bereits drei Millionen. Unter den Namen finden sich auch die von 68 000 zur Zwangsarbeit verpflichteten Deutschen. Und die von 32 000, die nach Artikel 58 – konterrevolutionäre Aktivität – verurteilt wurden.

„Die letzte Adresse“

Das Projekt „Die letzte Adresse“ ähnelt den deutschen Stolpersteinen. Statt im Boden vor dem Haus, werden an der Fassade Plaketten angebracht. Auf rostfreiem Stahl sind Informationen über die Opfer stalinistischer Repressionen eingestanzt, die einst in dem Haus wohnten: Name, Geburtstag, Tag der Verhaftung und Tag der Rehabilitierung. Um die 2000 dieser kleinen Erinnerungsorte gibt es mittlerweile in ganz Russland oder sind geplant. Dazu noch einige in anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion wie Georgien, der Ukraine und Belarus. Seit 2019 gibt es „Die letzte Adresse“ auch in Deutschland.

Vor einigen Jahren schrieb die MDZ über eine Plakette am Haus Nummer 36 in der Krasnoprudnaja uliza. Sie erinnert an die Schauspielerin Carola Neher und ihren Mann Anatol Becker. Sie wurden gemeinsam mit 70 weiteren politischen Flüchtlingen aus Deutschland als Trotzkisten und Terroristen verurteilt. Becker wurde 1937 in Moskau erschossen, Neher erlag 1942 im Gefängnis von Sol-Ilezk einem Typhusleiden.

„Die Rückkehr der Namen“

Jedes Jahr erinnert Memorial International am 29. Oktober, dem Vortag des Gedenktags für die Opfer politischer Repressionen, mit der Aktion „Die Rückkehr der Namen“ an die Menschen, die in den 1930er Jahren leiden mussten. Von zehn Uhr morgens bis zehn Uhr abends werden auf dem Lubjanka-Platz die Namen der Opfer des sowje­tischen Terrors verlesen. Wegen der Corona-Pandemie fand die Veranstaltung in den vergangenen zwei Jahren online statt.

2019 begleitete die MDZ den damals 15-jährigen Tim Thielen, der extra aus Deutschland anreiste, weil seine Vorfahren Russlanddeutsche waren. Im September 1942 wurde die Familie des Großvaters nach Sibirien deportiert. In der Verbannung wurde der Großvater zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt, weil er für seine Kinder Getreide vom Feld gestohlen hatte.

Schulprogramme

Memorial* schaut nicht nur zurück, sondern auch nach vorne und will die heranwachsende Genera­tion aufklären. Seit 1999 gibt es den Geschichtswettbewerb „Der Mensch in der Geschichte. Russland und das 20. Jahrhundert“ für ältere Schüler. Mehrfach hat auch die MDZ darüber berichtet. Die Teilnehmer rekonstruieren die Geschichte von Personen, Familien, Gemeinden und Dingen des 20. Jahrhunderts. Unter den eingereichten Arbeiten sind jedes Jahr auch welche, die sich mit Russlanddeutschen befassen.

„Das Recht zur Heimkehr“

Gemeinsam mit dem Institut für Recht und öffentliche Politik bemüht sich Memorial International* in einem Sonderprojekt darum, dass Opfer von Repressionen an ihre früheren Wohnorte zurückkehren können. Allen voran Jelisaweta Michajlowa, Jewgenija Schaschewa und die Russlanddeutsche Alisa Meissner kämpfen für das Recht auf Heimkehr in die ehemaligen Wohnorte. Das garantiert das „Gesetz über die Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen“.

Danach dürfen Menschen, die rehabilitiert wurden, und deren in der Verbannung geborene Kinder wieder an die Orte zurückkehren, aus denen sie einst verschleppt wurden. Und der Staat muss ihnen Wohnraum zur Verfügung stellen. In der Praxis ist das aber nahezu unmöglich. Denn für die Umsetzung des Gesetzes die einzelnen Regionen zuständig sind. Und die reihen die Verfolgten hinter die Beihilfeberechtigten ein. Dagegen klagten die drei Frauen vor dem Verfassungsgericht und bekamen Recht. Das föderale Gesetz muss deswegen geändert werden, was zu einer breiten öffentlichen Diskussion führte. Momentan beraten die Duma und die Regierung das Gesetzesvorhaben zur Versorgung von Verfolgten mit Sozialwohnungen.

Olga Silantjewa und Ljubawa Winokurowa

*Die Organisation wurde vom rus­sischen Gesetzgeber als auslän­discher Agent eingestuft.

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