Stärke aus der dunklen Vergangenheit: Wie sich ein Jugendlicher seiner Familiengeschichte nähert

Wenn die Großeltern Opfer von Verfolgung waren, spüren das selbst die Enkel noch. Deshalb ist es Tim Thielen wichtig, die Vergangenheit seiner Familie zu verstehen. In Moskau unternahm er jetzt den nächsten Schritt.

Es ist kalt in Moskau an der Lubjanka, als der 15-jährige Tim Thielen ans Mikrofon tritt und zwei Namen vorliest: „Maria und Alexander Heinrich – vertrieben im Sommer 1941“. Es ist so kalt, dass Heizpilze die langen Reihen der Wartenden warmhalten. Doch trotz der Kälte und obwohl in seiner rheinländischen Heimat Schule ist, hat Tim mit seiner Mutter und einer befreundeten Familie den Weg nach Moskau auf sich genommen.

Denn heute findet hier die „Rückkehr der Namen“ statt. Jährlich am 29. Oktober organisiert die Nichtregierungsorganisation „Memorial“ die Gedenkveranstaltung, um an die Opfer des stalinistischen Terrors zu erinnern. Der Platz auf der Lubjanka ist symbolisch gewählt, direkt vor dem Gebäude des ehemaligen sowjetischen Geheimdiensts KGB, wo heute die russische Nachfolgeorganisation FSB untergebracht ist.

Zehn Stunden lang lesen Menschen ohne Unterbrechung einzelne Namen der zehntausenden Opfer laut vor, um gegen das Vergessen und die Verharmlosung der damaligen Gewalt zu protestieren. Wie für die meisten 15-Jährigen, ist Geschichte eigentlich nicht Tims größte Sorge. Latein hat er abgewählt – und ist glücklich mit dieser Entscheidung.

„Maximal so zehn Prozent russisch“

Aber dieser Teil der Vergangenheit betrifft ihn persönlich, denn seine Familie hat einen russlanddeutschen Hintergrund. Er selbst identifiziert sich als „vielleicht so 90 Prozent deutsch, maximal so zehn Prozent russisch.“ Doch dieser vermeintlich kleine Teil hat die Familie entscheidend geprägt. Deshalb ist er hier, um mehr über die Vergangenheit zu lernen. Die Geschichten, die Oma immer beim Tee erzählt hat, seien zwar spannend gewesen, aber eben wenig greifbar.

„Die waren ja erst an der Wolga, dann Sibirien, dann in Kirgistan, dann Deutschland“, gibt er offen zu: „Wer, wo, wie? Das war immer zu viel.“ Ende des 18. Jahrhunderts kommen die Familien Friebus und Heinrich unter Katharina der Großen nach Russland. Sie siedelten an der Wolga in der Nähe von Saratow in der Kolonie Fischer. Im Spätsommer 1941 werden sie wie alle Deutschen an der Wolga auf Erlass des Obersten Sowjets nach Sibirien deportiert, in die Region Nowosibirsk.

Nachdem der Vater für die Familie Getreide von einem Feld stiehlt, wird er zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt. Es ist eine Zeit von immensem Leid für die Familie. Die Zwillinge, Schwestern von Tims Großmutter, gehen noch 1951 nur abwechselnd zur Schule. Der Grund: Die Familie hat nur ein Kleid und nur ein Paar Schuhe, die sie sich teilen. Erst nach dem Tod Stalins 1953 endete die Verbannung. Da die Rückkehr in die alten Gebiete weiterhin verboten war, baute die Familie in Kirgistan eine neue Existenz auf.

Die Worte des KGB-Beamten im Nacken

Aber Tim geht es nicht nur um vergangene Zeiten. Er nickt zustimmend, wenn sein Freund erklärt: „Man kann manche Entscheidungen der Eltern einfach besser nachvollziehen. Warum sie in manchen Punkten strenger sind als deutsche zum Beispiel.“ Ein Grund dafür sind Erfahrungen wie diese: Als die Familie 1979 nach Jahren des vergeblichen Antragsstellens endlich ausreisen darf, müssen sie innerhalb von nur zehn Tagen die Sowjetunion verlassen.

Allein die Zugfahrt von Kirgistan bis Moskau dauert drei Tage. Bis zum Schluss droht der zuständige Beamte des KGB der Großmutter: „Fühlt euch nicht sicher! Wir können euch noch zurückholen – selbst wenn ihr schon im Flugzeug sitzt.“ Als sie endlich in Frankfurt auf deutschem Boden steht, fängt sie an zu weinen.

Diese Angst sei bis heute nicht ganz verschwunden, schildert Tims Mutter: „Ich könnte nie so fordernd gegenüber einem Polizisten auftreten wie eine Deutsche.“ Es wurde einfach dieses Gefühl an einen weitergegeben, sich bücken zu müssen. Der andere habe ja per se mehr Rechte. Schlussendlich kam die Idee, nach Moskau zu fahren, von Tims Mutter, selbst Historikerin und Journalistin. Für entsprechend wichtig hält sie die Kenntnis der eigenen Geschichte, um eine eigene stabile Identität zu finden.

Denn mit einer Geschichte von Migration bleibe die eigene Identität immer wie eine Waage zwischen dem Alten und dem Neuen. Auch durch eine vermeintliche Kleinigkeit kann sie aus dem Gleichgewicht geraten. Für sie passierte das erst vor Kurzem, als sie ihren Sohn am Gymnasium anmeldet und eines der Formulare detailliert nach ihrem Migrationshintergrund fragt. „Du kannst 40 Jahre in einem Land leben: Aber so ganz lassen sie dich nie eine von ihnen sein“, berichtet sie schockiert. Plötzlich sei die Sprache egal, die Staatsbürgerschaft. Dann kommt es nur auf ein Detail an: „Bist du Spätaussiedlerin?“

Am Anfang der Suche nach Identität

Aber gerade aus der Geschichte von Migration und Verfolgung entspringe auch Stärke, betont sie. Auch die will sie ihrem Sohn mitgeben. Einerseits die Gewissheit, dass viele Menschen ähnliche Erfahrungen haben.

Andererseits dieses einzigartige Durchhaltevermögen und die Bereitschaft neu anzufangen: „Dreimal hat mein Vater mit eigenen Händen ein Haus gebaut“, erzählt sie. Sie ist überzeugt, mit 15 Jahren steht ihr Sohn am Anfang der Suche nach seiner Identität: „In ein paar Jahren wird er eine ganz andere Antwort auf die Frage geben, wer er ist.“ Darauf will sie ihn vorbereiten und Neugierde wecken auf Russland, die dunklen Seiten der Geschichte zeigen, aber auch das Schöne am Land ihrer Eltern.

Der Erfolg zeigt sich. So viel wird Tim klar: Mit seiner Mutter war er schon häufiger in Russland. Aber fertig ist er mit dem Land noch nicht. Jetzt will er sein Russisch verbessern und wiederkommen – auch allein. Denn ohne Mutter, aber mit fließendem Russisch, gibt es in diesem großen Land Russland und dieser großen Stadt Moskau noch viel zu entdecken.

Lucian Bumeder

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