Was Russlanddeutsche für die Kriegswende in Stalingrad leisteten

Am 2. Februar jährt sich die deutsche Kapitulation in Stalingrad zum 80. Mal. Wenig bekannt ist, dass Russlanddeutsche damals einen wichtigen Beitrag zum sowjetischen Sieg in der blutigen Schlacht geleistet haben.

Denkmal an die Bauarbeiter der Eisenbahnlinie in Buinsk (Foto: Ilgis Nigmatulin)

Seit den 1760ern lebten die Deutschen im Wolgagebiet. Im Jahre 1941 wurde die deutschstämmige Bevölkerung der Region – fast eine halbe Million Menschen – in die östlichen Gebiete des Landes zwangsumgesiedelt. Jedoch kamen im Frühjahr 1942 über 20.000 Deutsche wieder an die Wolga zurück, aber nun als Zwangsarbeiter. Sie wurden zum Bau der 978 Kilometer langen Eisenbahnstrecke Swijaschsk-Stalingrad herangezogen. Auf dieser neuen Bahnlinie konnten sowohl Truppen, Technik und Munition nach Stalingrad gebracht, als auch Verwundete, Ausrüstung und Zivilisten aus der Stadt herausgefahren werden.

Die Entscheidung über den Bau der Wolga-Feldbahn wurde im Januar 1942 getroffen. „Die Wolga-Rochade“ nannte man diese Strecke während der Schlacht von Stalingrad. Man plante die Abschnitte Saratow-Stalingrad und Ulja­nowsk-Saratow. Wenig später fügte man noch den 202 Kilometer langen Streckenabschnitt von Swijaschsk, einer Stadt in der Nähe von Kasan, bis Uljanowsk hinzu.

Schema der Wolga-Feldbahn (Bild: MDZ)

Abschnitt Swijaschsk-Uljanowsk

Genau für den Bau der Strecke Swijaschsk-Uljanowsk wurde im Februar das Wolga-Arbeitslager (Wolglag NKWD) geschaffen. Bereits im Frühjahr befanden sich rund 20.000 Russlanddeutsche und 15.000 Häftlinge in dem Lager. Im August 1942 zählte man 23.3000 Arbeitsarmisten (russlanddeutsche Zwangsarbeiter, Anm. d. Red.). Sie schlugen Holz, verlegten Eisenbahnschwellen, bauten Brücken und arbeiteten in der Landwirtschaft im Sowchos „Saссo und Vanzetti“, der die an der Eisenbahnlinie Arbeitenden mit Lebensmitteln versorgte. Die Arbeit wurde hauptsächlich von Hand unter Zuhilfenahme von Tragen und Karren ausgeführt, per Hand wurden auch die Schienen verlegt, die Arbeits- und Lebensbedingungen waren sehr hart.

Die Moskauerin Nina Lebedewa erinnert sich, wie sie davon erfuhr, dass ihr Vater Andrej Voth (1921–2006) am Bau des Abschnitts Swijaschsk-Uljanowsk beteiligt war. „Ich studierte damals am Eisenbahninstitut, kam nach dem Praktikum nach Hause und erzählte begeistert, wie man jetzt Eisenbahnlinien baut“, so Lebedewa. „Und mein Vater, er hatte das ganze Leben von 1939 an im Altai als Lehrer gearbeitet, fragte mich voller Interesse darüber aus. ,Na sowas aber auch‘, sagte er, ,wir haben die Balken auf unserem Rücken getragen und die Schwellen selbst gelegt‘. Das war für mich eine Neuigkeit! Dann bat ich ihn, seine Erinnerungen aufzuschreiben …“

Andrej Voth (1921–2006) in den 1950ern (Foto: privat)

„An der Strecke gibt es keinen Regen“

In seinen Aufzeichnungen erzählt Andrej Voth, wie die Deutschen den Abschnitt Swijaschsk-Uljanowsk gebaut hatten: „Wir haben von 5 Uhr morgens bis 9 Uhr abends gearbeitet, die gefrorene Erde mit Brecheisen bearbeitet, die Balken 6-7 Kilometer weit geschleppt, Erde weggefahren. Die Arbeit an der Strecke wurde auch bei Regen nicht unterbrochen. Es gab da so eine Losung: ,An der Strecke gibt es keinen Regen’… So viel, wie ein einzelner Mensch den Tag über geschleppt hat, schafft man nicht einmal mit einem Pferd in dieser Zeit.“

Nina Lebedewa bereitet jetzt zur Erinnerung an ihren Vater Material über den Bau der Wolga-Feldbahn für eine Museumsausstellung in Buinsk vor, wo eine Station des Abschnitts Swijaschsk-Uljanowsk gelegen ist. Sie hofft, dass es dort einen Stand geben wird, der den deutschen Arbeitsarmisten gewidmet ist, die an der Eisenbahnlinie mitgebaut haben. Nina träumt auch von einem Buch, das die Heldentaten der Russlanddeutschen, der Erbauer der Wolga-Feldbahn, würdigt.

Abschnitt Saratow-Stalingrad

Den Eisenbahnabschnitt Saratow-Stalingrad (das Stück Saratow-Kamyschin) bauten Häftlinge und ungefähr 4500 Russlanddeutsche, ehemalige Wehrpflichtige. Ihr Lager befand sich in der ehemaligen wolgadeutschen Stadt Balzer, die im Mai 1942 in Krasnoarmeisk umbenannt wurde. Es gibt jedoch keine Informationen über dieses Lager. Denn es gibt keinen Zugang zu den Archiven.

„Die gesamte Schlacht um Stalingrad mit Reserven und Bewaffnung versorgt“

Am wichtigen Bau der Wolga-Feldbahn waren ungefähr 100 000 Menschen beteiligt. Neben Arbeitsarmisten und Häftlingen waren das Ingenieure, Eisenbahner, Militärbauleute, Evakuierte, ortsansässige Zivilisten. Die gesamte Eisenbahnstrecke wurde am 10.  November 1942 in Betrieb genommen. Zu diesem Zeitpunkt waren auch die Arbeiten am Abschnitt Swijaschsk-Uljanowsk beendet worden. Am 19. November begann die Stalingrader strategische Angriffsoperation „Uran“. Sie endete am 2.  Februar 1943 mit einem Sieg der sowjetischen Truppen.

Marschall Georgi Schukow schrieb in seinen Memoiren, dass „der Bau der Wolga-Feldbahn die gesamte Schlacht um Stalingrad, die eine grundlegende Wende des Krieges darstellt, mit Reserven und Bewaffnung versorgt“. Auch beim Wiederaufbau des zerstörten Stalingrads spielte die Eisenbahnlinie eine Rolle. Sie ist noch heute in Betrieb.

Bis vor Kurzem sprach man wenig über die Wolga-Feldbahn. Und wenn, dann ohne Einzelheiten, denn beim Bau wurden Menschen aus dem Gulag eingesetzt.

„Das Verhältnis zu uns änderte sich ein wenig …“

„Am 2. Februar 1943 wurden wir alle aus unseren Erdhütten geholt und mussten antreten. Es war früher Morgen und noch dunkel, Schneesturm. Unser Politstellvertreter (damals sah ich ihn das erste Mal) teilte uns feierlich mit, dass unsere Truppen die Faschisten bei Stalingrad völlig aufgerieben hatten und die Sowjetarmee den sich zurückziehenden Feind verfolgt. Das war überhaupt das erste Mal, dass man mit uns über Ereignisse an der Front sprach. Das Verhältnis zu uns änderte sich ein wenig, wir bekamen einen Feldscher …“, schrieb Andrej Voth in seinen Erinnerungen.

Olga Silantjewa

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