Es liegen so einige Länder zwischen Russland und Deutschland. Früher kannte man sie von der Pilotenansage „Wir überfliegen jetzt …“. Viel zu sehen war aus 10.000 Metern Höhe nicht.
Nun, wo die Direktflüge der weltpolitischen Lage zum Opfer gefallen sind und alternative Flugrouten meist ins Geld gehen beziehungsweise umständlich sind oder beides, hat sich herausgestellt: Es führen viele Wege nach Deutschland. Der kürzeste durch Belarus ist für EU-Bürger an ein Transitvisum gebunden. Aber der Blick auf die Karte zeigt, dass sich auch die baltischen Länder und sogar Finnland für die Durchreise anbieten. So haben selbst langjährige Moskauer Expats in den zurückliegenden Wochen notgedrungen ganz neue Ecken in Osteuropa für sich entdeckt. Aus den gewohnten drei Stunden Flugzeit wird über Land oder selbst dann, wenn eine Teilstrecke in der Luft zurückgelegt wird, zwar schnell mindestens eine Tagesreise, das wird jedoch durch bleibende Eindrücke mehr als kompensiert.
Moskau – Kaliningrad: Flug mit Schleife
Eine verkehrs- und kostengünstige Route mit hohem Erlebnisfaktor führt über Kaliningrad und Danzig, zwei Städte mit deutscher Vergangenheit. In die russische Exklave Kaliningrad zwischen Litauen und Polen ist die Auswahl an Inlandsflügen ab Moskau groß, die Preise beginnen inklusive Gepäck bei um die 3000 Rubel (gut 40 Euro nach dem offiziellen Wechselkurs). Weil russische Airlines EU-Gebiet umfliegen müssen und deshalb erst über den internationalen Gewässern der Ostsee Kurs nach Westen nehmen, dauert der Flug so lange wie unter normalen Umständen der nach Berlin. Dafür ist die Aussicht blendend – rechterhand auf die Südküste Finnlands, linkerhand auf das Baltikum, wo unter Umständen die estnische Hauptstadt Tallinn erspäht werden kann.
Der Flughafen von Kaliningrad liegt ein ganzes Stück außerhalb. Zum Ostseebadeort Selenogradsk, der bis zur Umbenennung nach dem Zweiten Weltkrieg Cranz hieß und auch Tor zur Kurischen Nehrung ist, sind es von hier nur 20 Kilometer, weshalb ein Abstecher zum Strand in Betracht gezogen werden kann. Ansonsten bringt der Expressbus 244 Neuankömmlinge in 45 Minuten für 100 Rubel in die Stadt.
Kaliningrad – Danzig: Mit dem Bus über die Grenze
Kaliningrad hat nicht mehr allzu viel von Königsberg, das es von 1255 bis 1946 war. Hier nur als Beispiel die Geschichte des Kneiphofs, eines kompletten Stadtteils, der auf einer Insel in unmittelbarer Nachbarschaft zum Schloss Platz fand. Seine 28 Straßen wurden dicht an dicht von 304 Häusern gesäumt. Doch ein britischer Luftangriff Ende August 1944 ließ davon (wie auch vom Schloss) so gut wie nichts übrig. Die Insel ist heute ein Park, das einzige Gebäude darauf der Königsberger Dom. Von ihm hatten den Krieg immerhin die Außenmauern überlebt. In den 1990er Jahren begann seine Restaurierung.
Auch anderswo ist das historische Erbe nur fragmentarisch präsent. Dennoch hat Kaliningrad seine eigene Aura und ist durchaus fotogen. Zuletzt hat die Regionalhauptstadt sichtlich von der Fußball-WM 2018 profitiert, als sie Spielort war. Wer hier eine Zwischenübernachtung einlegen möchte, findet Hotels für jeden Geldbeutel vor, darunter auch top-ausgestattete Hostels zu Preisen ab ca. zehn Euro wie etwa das KoikaGo in der Nähe des Südbahnhofs und Busbahnhofs.
Nach Danzig geht es weiter mit den Bussen 802 oder 900, von denen mehrere täglich verkehren (2500 Rubel). Beide Städte sind ca. 160 Kilometer voneinander entfernt. Weil unterwegs aber auch die russisch-polnische Grenze überquert werden muss, veranschlagt der Fahrplan knapp vier Stunden für die Strecke.
Danzig – Berlin: Direkt oder mit Zwischenstopp
Danzig nennt einen bedeutenden Hafen sein Eigen und ist Heimat der Solidarnosc-Bewegung, über die Landesgrenzen hinaus aber vor allem für seine malerische Altstadt bekannt. Die ist eine doppelte Sensation: Nicht nur, dass das Stadtbild den Besucher in vergangene Jahrhunderte versetzt – es ist aus den Kriegstrümmern so wiederauferstanden, dass die weitgehende Zerstörung des Zentrums heute nicht mehr zu erahnen ist. Anders als in Kaliningrad, wo auf den Ruinen von Königsberg praktisch eine neue Stadt errichtet wurde, hat Danzig sein Gesicht gewahrt.
Altstadtbebauung in Danzig (Foto: Tino Künzel) An der Mottlau, dem Stadtfluss (Foto: Tino Künzel) Uferpromenade an der Mottlau mit dem mittelalterlichen Krantor (rechts), einem Wahrzeichen der Stadt (Foto: Tino Künzel)
Mit Berlin ist dieses Touristenmekka direkt durch Zug (6,5 Stunden) und Bus (9,5-10,5 Stunden) verbunden. Der Zug fährt morgens, ist aber hin und wieder ausgebucht, der Busanbieter Sindbad startet am Nachmittag, Flixbus am späten Abend. Die Alternative ist ein Bahnticket mit Umsteigen in Poznan (etwa auf halber Strecke). Dort besteht Anschluss an Fernzüge, die aus Warschau kommen. Von Danzig aus nach Deutschland zu fliegen, ist ebenfalls möglich, aber je nach Zielflughafen nicht unbedingt lohnend. Meist handelt es sich um Flüge mit Zwischenstopps, was die eventuelle Zeitersparnis zunichtemachen kann.
Der Hautpbahnhof von Danzig (Foto: Tino Künzel) Solche Eurocity-Züge setzt die polnische Bahn im internationalen Verkehr ein. (Foto: Tino Künzel) Ukrainisches Mädchen vor einem Laden auf dem Bahnhof von Frankfurt/Oder, wo kleine Willkommensgeschenke an Flüchtlinge verteilt werden, darunter auch Kuscheltiere (Foto: Tino Künzel)
Ein wichtiges Nachwort
Zu beachten ist auch, dass die hier beschriebene Reiseroute nicht in der Gegenrichtung funktioniert. Die russischen Landgrenzen sind für EU-Bürger noch seit Pandemiezeiten geschlossen und können nur in Ausnahmefällen passiert werden. Die Einreise muss also per Flugzeug erfolgen. Da die EU und Russland ihre Lufträume füreinander gesperrt haben, geht das nur mit Umweg über ein Drittland. Die Türkei ist eine naheliegende Wahl.
Tino Künzel