Deportation und GULAG: Man darf nicht schweigen

In der jetzigen Zeit, wo sich das Verhältnis des russischen Staates zu seiner „unbequemen Vergangenheit“ ändert, wird es immer schwieriger, ein öffentliches Gespräch über die repressiven Maßnahmen gegen die Deutschen in der UdSSR zu führen. Am Vorabend des 81. Jahrestages der Deportation der Russlanddeutschen sprach die MDZ mit Konstantin Andrejew, dem Leiter des Bildungszentrums des GULAG-Museums in Moskau, über die Möglichkeiten, die Erinnerung daran aufrechtzuerhalten.

Zwei Kreuze, eine Lore, ein Stein, Schienen … Die Gedenkstätte für die Deutschen in der Arbeitsarmee in Workuta, hinter dem Polarkreis, eröffnet 2012 (Foto: JdR).

Sie sind jetzt auf den Solowezki-Inseln, im Juli waren Sie auf Sachalin und in Workuta. Keine typisch sommerlichen Reiserouten. Wie oft fahren Menschen an die Orte, wohin zu Zeiten der Zaren und der Sowjetunion Menschen verbannt wurden?

Natürlich sind weder Workuta noch Sachalin sommerliche Reiseziele. Aber im Sommer kommt man da am besten hin. Das sind schwierige Regionen, was die Spuren im Gedächtnis angeht. Sachalin – das ist vor allem ein Verbannungsort im vorrevolutionären Russland. Das Sonderlager auf den Solowezki-Inseln betrifft die Repressalien der 1920er und 1930er Jahre. In Workuta befand sich eines der größten Lager des GULAG, wo auch viele Deutsche der Arbeitsarmee inhaftiert waren.

Ich wünsche mir, dass es in all diesen Regionen tiefgreifende und thematisch aufbereitete Exkursionen geben wird, die das schwierige Thema der Repressalien aufgreifen und gefühlvoll an diese Frage heranführen. Leider gibt es so etwas nicht überall. Sogar hier, auf den Solowezki-Inseln, wo dieses Thema omnipräsent ist, haben die freiwilligen Helfer, die im Naturparkmuseum arbeiten, erst in diesem Sommer Hinweisschilder und Wegweiser zu den Grabstätten der umgekommenen Lagerinsassen aufgestellt. Die jungen Leute, die die Besichtigungen durchführen, sagen, dass das Thema GULAG bei den Pilgern und den anderen Besuchern der Inseln nicht besonders gefragt ist. Aber sie bemühen sich, trotzdem darüber zu sprechen.

Konstantin Andrejew auf Expedition „Workuta 2022“ (Foto: Ewgenij Machleidt)

„Wir raten, Emotionen festzuhalten“

Reisen an Verbannungsorte könnten das Gedenken an die Repressalien befördern, aber es ist wenig wahrscheinlich, dass sie angeboten werden. Welche Möglichkeiten sind heute am effektivsten?

Gefragt sind öffentliche Gespräche über das Gedenken, Public History, all das, was im Netz veröffentlicht wird. Das sind Audioführer, Webseiten und Publics, die dieses Thema aufgreifen, und immersive außergewöhnliche Theaterstücke. Solche Formate sind nun in den großen Städten beliebt. Aber ich denke, dass diejenigen, die sich mit dem Thema Repressalien befassen, sich diese Formate aneignen werden.

Die Generation derer, die Deportation und Arbeitsarmee überlebt haben und die ihre Erinnerungen noch weitergeben können, verschwindet langsam. Wie problematisch ist das für die Bewahrung der Erinnerung an die Repressalien?

Man darf nicht die Illusion hegen, dass die Erinnerung lebendig bleibt, so wie es in den 1980er–1990er Jahren war. Wir treffen heute noch die letzten Augenzeugen an, können mit ihnen sprechen, um die Generation zu sein, die es der nächsten dann weitergibt. Wir aus dem Museum raten allen, die Erinnerungen aufzuzeichnen, Wörter und Emotionen festzuhalten. Wichtig ist, dass jeder von uns Verantwortung für die Bewahrung der eigenen Familiengeschichte übernimmt. Wenn das Trauma des Erlebten weitergegeben werden kann, indem wir über die Verluste, Entbehrungen und die Not sprechen, die unsere Vorfahren erleiden mussten, so kann die Erinnerung bewahrt werden, wenn auch in veränderter Form.

„Manchmal ist das Verschweigen auch eine Möglichkeit“

Im Moment verändert sich das Verhältnis zum Thema Repressalien in der Gesellschaft gänzlich. Man spricht darüber wie über eine Schmach, die verhindert, dass man stolz auf sein Land sein kann. Wie aber sollen sich die verhalten, für die diese Ereignisse ein Teil ihrer Erinnerungskultur sind, zum Beispiel die Russlanddeutschen?

Die Erinnerung und das Verhältnis zu verschiedenen historischen Ereignissen verändern sich. Kürzlich erschien das Buch von Nikolaj Epple „Die unbequeme Vergangenheit“ über Methoden der Vergangenheitsbewältigung in verschiedenen Ländern. Es wird klar, dass manchmal das Verschweigen auch eine Möglichkeit ist. In Wirklichkeit gibt es keinen richtigen oder falschen Weg der Bewältigung von Traumata. Man muss ihn suchen. Jeder von uns ist für seine engere Umgebung verantwortlich, für die, die nichts über die „unbequeme Vergangenheit“ wissen. Wir sagen im Museum so: Es ist nicht peinlich, nichts darüber zu wissen, aber es ist eine Schande, denjenigen, die nicht wissen, was in jenen Jahren geschah – Deportation, Verbannung, Lager, Erschießungen – nichts zu erzählen. Das Gespräch sollte rational, wissenschaftlich und mit Achtung gegenüber einer anderen Meinung geführt werden.

Oft vergessen die Verkünder ihrer patriotischen Haltung, dass die Aufarbeitung von Traumata und Verletzungen auch eine patriotische Aufgabe ist. Das erlaubt es, sein Land mit all seinem Schmerz, seinem Leiden und seinen Wunden anzunehmen. Wenn Verletzungen nicht behandelt werden, kehren sie früher oder später als Lahmheit, Blindheit oder Aggression zurück.

Am Trauer- und Gedenktag der Russlanddeutschen

Im GULAG-Museum findet am 28. August der Gedenktag der Russlanddeutschen statt. Ist das eine Veranstaltung nur für die eigenen Leute? Gibt es auch Außenstehende, die sich für dieses Thema interessieren?

Wir sind bestrebt, dass an den Jahrestagen der Deportation verschiedener Völker, sei es der Russlanddeutschen, der Inguschen, der Tschetschenen, der Kalmücken, die Vertreter dieser Völker zu uns ins Museum kommen und sich zu diesem Thema austauschen. Die Veranstaltungen sind für alle offen. Dieses Mal gedenken wir des 80. Jahrestages der Massenmobilmachung der Deutschen in die Arbeitsarmee, berichten über verschiedene Projekte, über die Expedition „Workuta 2022“, die wir gemeinsam mit dem Jugend­ring der Russlanddeutschen (JdR) durchgeführt haben.

Ich möchte noch eine Begebenheit erzählen. Im vergangenen Jahr war ich am 28. August mit einem Projekt des JdR im Gebiet Saratow. An diesem Tag trafen wir uns in einem Café in Engels. Bis 1941 war das die Hauptstadt der deutschen Wolgarepublik. Die Mädchen kamen in ihrer Nationaltracht. Die Barfrau begann sie auszufragen. Und sie antworteten. „Deutsche? Was haben die denn hier gemacht?“, fragte aufrichtig verwundert die Barfrau. Diese Frage stimmt einen nachdenklich. Man muss kommunizieren, seine Geschichte einem breiteren Auditorium erzählen.

Das Gespräch führte Olga Silantjewa.

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