Die russische Staatsbibliothek, im Volksmund kurz Leninka genannt, weil sie bis 1992 Leninbibliothek hieß, braucht keine besondere Werbung, denn sie ist die größte Bibliothek Russlands. Hier liegen über 47 Millionen Werke, von besonders wertvollen wie die Bibel Gutenbergs bis hin zu seichten Krimis der russischen Schriftstellerin Darja Donzowa.
Gewöhnlich ist die Bibliothek von 9 bis 20 Uhr geöffnet. Nach acht ist nur noch der Wachschutz da, abgesehen von ein paar Katern, die in den Kellerräumen leben. Man kann sich leicht die Gesichter der Wachleute vorstellen, wenn eine Minute nach acht eine Gruppe von Touristen ins Gebäude einfällt, die die Bibliothek am Abend besichtigen möchte. Aber es geht alles mit rechten Dingen zu, und zwar mit der Erlaubnis des Büros für Führungen. Aber im Prinzip ist der Sommer nicht die beste Zeit für nächtliche Exkursionen durch die Leninka, denn es wird spät dunkel, sodass wir anstelle einer mystischen Atmosphäre eher eine romantische geboten bekommen. Aus den Fenstern kann man die Kremltürme im rosaroten Abendlicht sehen.
Die Besichtigungsgruppe besteht aus zwölf Personen, damit man sich die Gesichter merken kann, weil die Besucher sich leicht in den weitläufigen Fluren der Bibliothek verirren können. Manche Türen haben ein Magnetschloss, den Schlüssel dafür hat nur der Fremdenführer. Es beginnt ein nächtlicher Ausflug in die Geschichte.
Private Sammlung
Die russische Staatsbibliothek wurde vor 160 Jahren gegründet, ihre Entstehung verdankt sie dem Grafen Nikolaj Rumjanzew. Er bekleidete hohe staatliche Posten und war demzufolge ziemlich wohlhabend. Er sammelte Kunstgegenstände, seltene Bücher und Manuskripte. Der Graf war kinderlos, und so übergab sein Bruder die wertvolle Sammlung nach dessen Tod dem Staat. Die Kollektion bildete die Grundlage des Rumjanzew-Museums in St. Petersburg, das wiederum Teil der kaiserlichen öffentlichen Bibliothek wurde. Der Fundus des Museums wuchs durch die Gaben von Kunstmäzenen schnell und das dafür bereitgestellte Gebäude wurde zu klein. Es wurde beschlossen, die Exposition nach Moskau in das Paschkow-Haus, ein wunderschönes Beispiel des Klassizismus, zu überführen, wo sie auch heute noch teilweise untergebracht ist.
Die Sammlung Rumjanzews gehört zum Bestand der russischen Staatsbibliothek. Nur sehr gebildete Bibliothekare, sie mussten vier Sprachen sprechen, Kalligrafie beherrschen, um die Katalogkärtchen auszufüllen, durften mit der Sammlung arbeiten. Außerdem mussten sie noch körperlich fit sein, denn die Bücherschränke waren fünf Meter hoch und es war nicht einfach, die Bücher vom obersten Regal zu nehmen und sie auch wieder dort hinaufzustellen. Heute arbeiten hauptsächlich Frauen in der Bibliothek, die für diese Arbeit nicht besonders sportlich zu sein brauchen, denn die Bücher werden mittels spezieller Loren und Lifts bewegt.
Das Museumsgebäude, vor dem das Denkmal des nachdenklichen Dostojewski steht, wurde fast dreißig Jahre lang gebaut und im Jahre 1960 fertiggestellt. Die Architekten Wladimir Gelfreich und Wladimir Schtschuko werden auch die Schöpfer des Stalinschen Empirestils genannt, wovon wir in Moskau sehr viele Beispiele finden können. Gelfreich und Schtschuko bauten für den Bücherturm der Bibliothek ein 19-geschossiges Hochhaus ohne Fenster. In den Fensterrahmen sind nicht die üblichen Glasfenster, sondern Glasbausteine, die diffuses Tageslicht durchlassen, das die Bücher nicht beschädigt. Leider kommt man bei den nächtlichen Exkursionen nicht in den Kustoden, aber man kann ihn aus den Fenstern sehen. Er erinnert äußerlich an einen Bienenstock, nur dass im Innern statt Honig Bücher liegen.
Interne Inhalte
Also in den Bücherturm kommen wir nicht? Na gut, dann gehen wir zu den Bücherkatalogen. Das sind endlose Säle voller Schränke, die nicht allzu hoch sind, wo die Kärtchen mit der Beschreibung der Bücher aufbewahrt werden. Es ist ja bekannt, dass diese Kärtchen (ein kleines Stück Papier, auf dem die Information per Hand geschrieben sein muss) für die Leser bestimmt sind, die daraus die nötigen Angaben entnehmen und sie dem Bibliothekar weitergeben, der wiederum die Anforderungen weiterleitet.
Wie er das macht? Sie werden sich wundern, aber es geschieht nicht auf elektronischem Wege, sondern per Rohrpost, deren schmale Röhren das ganze Gebäude durchziehen. Natürlich hat die Bibliothek auch einen elektronischen Katalog, aber dort befinden sich nur Angaben zu den Büchern, die nach 2002 erschienen sind. Wenn die Bibliothekare Zeit haben, digitalisieren sie die Angaben zu eher erschienenen Veröffentlichungen, aber das ist ein langer und aufwendiger Prozess. Bisher hat die Bibliothek dazu keine spezielle Arbeitsgruppe geschaffen, Pläne dafür gibt es aber. Außerdem beschweren sich die Bibliothekare darüber, dass der elektronische Katalog oft nicht funktioniert, der papierne hingegen ist nicht störanfällig. Also wird die Bibliothek nicht so bald auf den analogen Katalog verzichten.
Der Saal für tolle Fotos
Wenn man das Buch erhalten hat, kann man damit in einen der 37 Lesesäle gehen. Übrigens kann jeder einen Leserausweis der Leninka erhalten, sogar als Ausländer, es geht schnell und ist kostenlos. Der Lesesaal Nummer 3 ist der schönste, er sieht genauso aus, wie wir uns einen Lesesaal vorstellen, mit endlosen Tischreihen, auf denen grüne Lampen stehen. Hier wurden übrigens einige Szenen des Films „Moskau glaubt den Tränen nicht“ gedreht. Der wichtigste Schmuck in diesem Saal ist neben den Bücherschränken mit den Werken russischer Klassiker das Lenindenkmal. Als vor einigen Jahren der Saal renoviert wurde, wollte man das Denkmal entfernen. Jedoch stellte sich heraus, dass unter dem Fundament des Denkmals technische Verbindungsleitungen verlaufen, unter anderem auch Leitungen der Metro, deshalb blieb der Revolutionär an seinem Platz.
Die nächtlichen Exkursionen haben den Vorteil, dass dieser Saal abends leer ist und man ohne Probleme viele Fotos schießen kann. Aber man kommt auch in die Kellerräume. Dort kann man das Uhrenzimmer besichtigen, von wo aus alle Uhren der Bibliothek gestellt werden, die innere Telefonzentrale und natürlich die Kater, die nachts durch die Gänge patrouillieren. Website des Büros für Führungen durch die Leninbibliothek: leninkatour.rsl.ru. Die nächtlichen Führungen kosten 1500 Rubel.
Ljubawa Winokurowa