Das Ende der Eiszeit

Eine jähe Wendung: Präsident Alexander Lukaschenko pflegt derzeit gute Beziehungen zu den USA /Foto: kremlin.ru

Egal, ob ein Visum, um den ausgewanderten Onkel in Washington zu besuchen, oder die dringend benötigte Einreise-Erlaubnis für den Geschäftstrip ins Silicon Valley: Eine Reise in die USA war für die meisten Belarussen bis vor Kurzem mit erheblichem Aufwand verbunden. Denn vor dem Trip in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten stand zumeist eine andere Reise – und zwar nach Vilnius, Warschau, Kiew oder Moskau.

Für ein Visum zu den Nachbarn

Jahrelang gaben nur die US-Botschaften in Belarus Nachbarländern die notwendigen Einreise-Dokumente aus. Die Minsker Vertretung der USA lief dagegen auf Sparflamme und hatte nicht genügend Kräfte für Visa-Fragen. Nur fünf Diplomaten schoben in der belarussischen Hauptstadt Dienst; statt eines Botschafters vertrat ein Geschäftsträger mit eingeschränkten Befugnissen Washington. Doch das soll sich nun ändern. Denn die USA wollen wieder einen regulären Botschafter nach Belarus entsenden – nach rund elf Jahren Pause. Auch der Personalbestand der Vertretung soll kräftig aufgestockt werden. Im Gegenzug soll auch Minsk wieder einen offiziellen Botschafter in die USA entsenden. „Wir stimmen mit Ihnen darin überein, dass der bisherige Zustand der Beziehungen unnatürlich und nicht normal war“, erklärte US-Unterstaatssekretär David Hale Mitte September nach einem Gespräch mit dem bela­russischen Staatschef Alexander Lukaschenko. Der Schritt markiere einen historischen Durchbruch und bedeute eine Normalisierung, erklärte der Diplomat in der belarussischen Hauptstadt.

Eiszeit mit Taupunkt

Zwischen Minsk und Washington herrschte zuvor jahrelange Eiszeit. Immer wieder kritisierte Washington den autoritären Führungsstil des belarussischen Präsidenten. Nach der Niederschlagung von Protesten im Gefolge der Präsidentschaftswahl 2006 erreichten die Beziehungen ihren Tiefpunkt. Der damalige US-Präsident George W. Bush verhängte Sanktionen gegen neun staatliche Unternehmen und 16 Politiker der belarussischen Führung. Im Jahr 2008 wurden die Strafmaßnahmen auf den Staatskonzern „Belneftechim“ ausgeweitet. Präsident Lukaschenko reagierte und rief seinen Botschafter in Wash­ington zu Beratungen nach Belarus zurück. Im Gegenzug musste die US-Botschaft in Minsk 30 von insgesamt 35 Diplomaten inklusive Botschafter abziehen. Die vergangenen elf Jahre wurden die Vertretungen in beiden Ländern nur noch von Geschäftsträgern geführt. Doch die Eiszeit hatte nur einige Jahre Bestand. Bereits 2015 zeigten sich erste Anzeichen eines Tauwetters. So milderte die US-Regierung nach der Krim-Krise einige der Wirtschaftssanktionen gegenüber Belarus und erlaubte auch zuvor verbotene Geld-Transaktionen wieder. Präsident Lukaschenko und Ex-US-Präsident Barack Obama kamen 2015 am Rande eines UN-Gipfels zu einem Gespräch zusammen.

Charme-Offensive und hoher Besuch

Ab Ende vergangenen Jahres intensivierten sich die Kontakte dann zusehends. Washington startete eine regelrechte Charme-Offensive. US-Politiker gaben sich in Minsk die Klinke in die Hand. Den Anfang machte Wess Mitchell, US-Vize-Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten, der im Oktober 2018 zu einem Gespräch mit Präsident Lukaschenko anreiste und Belarus als „Teil einer Bastion, die vor dem russischen Neoimperialismus schützt“, bezeichnete. 2019 reiste dann George Kent, US-Staatssekretär für europäische und eurasische Angelegenheiten, zweimal in die belarussische Hauptstadt. Ihm folgte im Spätsommer eine Delegation des US-Kongresses. Ende August flog sogar US-Präsident Donald Trumps inzwischen geschasster Sicherheitsberater John Bolton für Gespräche ein. Er war der höchstrangigste US-Politiker, der seit Beginn des 21. Jahrhunderts Belarus besuchte.

Unabhängigkeit statt Menschenrechte

Aber woher rührt das neue Interesse an Belarus, das Washington jahrzehntelang als bizarre Diktatur im russischen Einflussbereich galt? „Es als schwarzes Loch zu behandeln und zu ignorieren, war ein Fehler“, schreibt dazu Michael Carpenter in der Zeitschrift „Foreign Policy“. „Das hat in der Frage der Menschenrechte keinerlei Fortschritte gebracht“, so der frühere Mitarbeiter der Abteilung für Russland, die Ukraine und Eurasien des amerikanischen Verteidigungsministeriums. Ökonomische und diplomatische Verflechtungen böten mehr Möglichkeiten zur Einflussnahme. Doch für viele Experten stehen handfestere Gründe hinter dem Engagement – die Menschenrechte seien nicht entscheidend. Bei der Frage nach dem Warum hilft der Blick auf das geopolitische Umfeld des 10-Millionen-Einwohner-Staates. So nehme der Einfluss Russlands seit der Krim-Krise 2014 in der Region beständig zu, heißt es dazu in einer Analyse von Radio Free Europe. Auch die belarussische Führung fühle sich zunehmend unter Druck und sehe die Souveränität des Landes gefährdet. In Washington betrachte man das russische Engagement ebenso mit unverhohlener Skepsis. Russische Militärbasen oder Bodentruppen in dem Land an der NATO-Außengrenze seien nicht in amerikanischem Interesse. Daher wolle Washington den Einfluss Moskaus zurückdrängen und drücke bei den Menschenrechten in Belarus ein Auge zu. Stattdessen stehe nun die Bewahrung der belarussischen Unabhängigkeit im Zentrum.

Birger Schütz

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