Auf der Flucht: Wie Russen von heute auf morgen nach Kasachstan emigrierten

Von sibirischen Großstädten wie Omsk oder Nowosibirsk aus ist die russisch-kasachische Grenze fast schon nebenan. Als am 21. September in Russland eine Teilmobilmachung verkündet wurde, machten sich viele statt an die Front auf den Weg ins Nachbarland. Dort wurden binnen zwei Wochen nach offiziellen Angaben etwa 200.000 Einreisen von Russen gezählt. Für die MDZ haben Ira Posrednikowa und Sascha Romanowski mit einigen der Emigranten gesprochen. Hier erzählen sie ihre Geschichten.

Der Moskauer Flughafen Scheremetjewo am 24. September. Auf die Teilmobilmachung reagierten viele Russen, indem sie selbst mobil wurden und sich ins Ausland absetzten. (Foto: Tino Künzel)

„Glauben an die Menschheit gestärkt“

Michail. Künstler, Nowosibirsk

Als die Mobilmachung begann, lag ich mit 39 Grad Fieber im Bett und habe gar nicht so recht begriffen, was vor sich geht. Dann ist meine Mutter gekommen und war völlig aufgelöst, denn die Söhne von zwei Kollegen hatten Einberufungsbescheide erhalten. Da hat auch mich die Panik erfasst.

Allerdings war ich weder mental noch finanziell auf so eine Situation vorbereitet. Ich habe bei Freunden herumgefragt und gehört, dass ein Bekannter buchstäblich am selben Tag mit seinem Auto nach Kasachstan fährt. Innerhalb von acht Stunden habe ich gepackt, was in einen Koffer passt, hauptsächlich Dinge für die Arbeit. Mein früheres Leben blieb zurück: meine Wohnung, meine Katze … 

An der Grenze haben wir neun Stunden in einer kilometerlangen Schlange verbracht. So etwas schlaucht. Unser Gepäck wurde nicht kontrolliert, man hat nur Stempel in unsere Pässe gedrückt. Wir haben sogar gedacht, dass wir uns völlig umsonst verrückt gemacht haben. Aber später sind uns Geschichten von anderen Leuten zu Ohren gekommen, da wussten wir, dass wir Glück gehabt haben, so wie das bei uns gelaufen ist.

Für mich ist diese asiatische Richtung Neuland. Ich bin nach dem Ende der Sowjetunion aufgewachsen, da hat man diese ehemaligen „Bruderrepubliken“ eher ein wenig geringschätzig betrachtet. Ich hätte nicht erwartet, dass Kasachstan uns so freundlich empfängt. Almaty zum Beispiel ist eine tolle Stadt! Dort komme ich gern mal wieder hin. Die Kasachen habe ich als unglaublich nette Menschen kennengelernt.

Wir sind einmal quer durch Kasachstan gefahren, haben mehrere Nächte im Auto und in einem kleinen Hotel geschlafen, einmal haben uns Leute bei sich aufgenommen, die einen Tag früher als wir angekommen waren. Dieser ganze Exodus fühlt sich für mich wie eine große Erfahrung beim Aufbau horizontaler Strukturen an. Man kann so viele Witze über die „Septemberkinder“ reißen, wie man will. (Anm. d. Red.: „Septemberkinder“ ist eine Anspielung auf die „Oktoberkinder“, eine sowjetische Massenorganisation für Sieben- bis Neunjährige.) Aber wer immer mir auch auf dieser Reise begegnet ist, alle wollten einander helfen. Was ich bisher auf dieser plötzlichen Emigration erlebt habe, hat meinen Glauben an die Menschheit gestärkt.

„Was habt ihr hier verloren?“, sagte der Polizist

Pjotr. Künstler, Moskau

An Emigration habe ich seit dem 24. Februar ständig gedacht. Im September bin ich an günstige Tickets gekommen und habe Menschen gefunden, die mir unterwegs behilflich sein können. Zum Nachdenken war keine Zeit. Ich bin mit dem Bus gefahren und habe die Grenze Anfang Oktober überquert. Irgendwelche Schwierigkeiten gab es dabei nicht.

Wirklich schwierig ist, dass ich nun von meiner Frau, meinen Eltern und meinen Freunden getrennt bin. Außerdem musste ich meine Werkstatt und alle meine Arbeiten zurücklassen und ein Projekt aufgeben, an dem ich das letzte halbe Jahr gearbeitet habe und das meine erste eigene Ausstellung werden sollte.

Jetzt bin ich in Aktau. Steppe und Meer. Das erinnert mich sehr an die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Die Situation ist ziemlich zwiespältig. Am Bahnhof sagte uns ein Polizist: „Was habt ihr hier verloren? Keiner hat auf euch gewartet.“ Andererseits haben am selben Tag einige Jungs aus der Stadt ihre Hilfe angeboten.

Die Perspektiven sind unklar. Drei Monate kann ich in Kasachstan bleiben. In der Zeit muss ich entscheiden, wo es von hier aus hingehen soll. In der engeren Wahl sind Georgien, Armenien, die Türkei und Deutschland.

„Was nun wird, ist total ungewiss“

Matwej. Fotograf, Nowosibirsk

Mir haben alle gesagt, dass ich mir keine Gedanken machen muss, weil ich schon über 40 bin. Ich wurde bisher auch nicht vorgeladen. Aber meinen ehemaligen Mitschüler, der genauso alt ist wie ich, hat man einbestellt, um „Daten abzugleichen“.

Für Kasachstan habe ich mich entschieden, weil es das nächstgelegene Land ist. Außerdem sind meine finanziellen Möglichkeiten ziemlich beschränkt. Hier kommt man damit einigermaßen über die Runden.

Ich habe so lange gewartet, bis es von allen Seiten hieß, dass ich nur Zeit verliere. Durch Zufall habe ich von Bekannten erfahren, die auch nach Kasachstan aufbrechen wollten. Ich saß schon im Auto, aber dann wurde mir klar, dass mich zu viel hält: meine Familie, meine Freundin, Dinge, die zu Ende gebracht werden wollen. Und so bin ich geblieben.     

Letztlich habe ich es aber dann doch mit der Angst bekommen und auch befürchtet, dass nicht meine Ausreise, sondern meine Anwesenheit in Russland das größere Problem für meine Angehörigen werden könnte. Also ging es am 30. September los. Der Grenzübertritt nahm drei, vier Stunden in Anspruch. Bohrende Fragen musste ich nicht über mich ergehen lassen. Aber ich weiß, dass andere lange und in höhnischem Ton ausgefragt wurden.

Früher habe ich mir nicht vorstellen könnten, einmal aus Nowosibirsk wegzugehen. Oder höchstens nach Moskau. Emotional ist das Ganze natürlich schlimm. Auch wenn ich wieder zu träumen angefangen habe – und sogar zu essen. In Russland konnte ich das zuletzt kaum noch. Andererseits kommen jeden Morgen, wenn ich aufwache, die Zweifel wieder hoch, ob das alles eine gute Idee war. Denn was nun wird, ist total ungewiss.

In Kasachstan war ich mal als Kind. Es ist schön hier, aber einen Großteil der Zeit verbringe ich mit Meinesgleichen. Die meisten bleiben nicht länger als eine Woche. Ich war in Pawlodar und Almaty. Sehr unterschiedliche Eindrücke. Almaty ist eine europäische Stadt mit eigenem Kolorit, warm und ansehnlich, mit freien Menschen, die unbeschwert von Kriegen sind.

Ich habe mir als Ziel gesetzt, mich erst einmal einzuleben, ein Plätzchen für mich und meine Nächsten zu finden. Dann sehen wir weiter.

„Wo können wir als Familie wieder zusammen sein?“

Jewgeni. Komponist, Nowosibirsk

Noch im Frühjahr habe ich überlegt, meine gesamte Familie ins Auto zu setzen und nach Kasachstan auszureisen. Aber damals war die Grenze pandemiebedingt noch geschlossen. Im September haben meine Frau und ich beratschlagt, wie wir nun vorgehen wollen. Dass wir alle gemeinsam in kürzester Zeit das Weite suchen, schien irgendwie Wahnsinn zu sein. Zumal keiner wusste, was uns an der Grenze erwartet. Letztlich bin ich allein gefahren, mit dem Bus. Die Grenzabfertigung hat anderthalb Stunden gedauert. Das ist nicht mehr, als man auf unserem Nowosibirsker Flughafen Tolmatschjowo manchmal auf das Gepäck wartet.

Aber der Schritt bedeutet jede Menge Verzicht. Kurzfristig – auf mein gewohntes Leben, langfristig  – das muss sich erst noch zeigen. In Nowosibirsk ist mein Studio, sind meine Instrumente. Ich will gar nicht daran denken, vielleicht niemals dorthin zurückzukehren. Jetzt geht es erst einmal darum: Wo können wir als Familie wieder zusammen sein? Auch Kasachstan ziehe ich dafür in Erwägung. Ein angenehmes, gastfreundliches Land. Ich bin zum ersten Mal hier und würde mir natürlich wünschen, dass diese Begegnung unter anderen Umständen stattfände.

Mir kommt in Kasachstan vieles vertraut vor. In der Architektur gibt es nur kleinere Unterschiede in Sachen nationales Kolorit. Der Irtysch ähnelt dem Ob. Und dann habe ich hier Pyramidenpappeln gesehen, als ob man im Süden wäre.

Ich habe lange in Nowosibirsk gelebt und versucht, mich dort zu entwickeln. Wegzugehen ist mir schwergefallen. Idealerweise will ich mir jetzt ein Künstlervisum für Deutschland besorgen. Das ist möglich, allerdings nicht einfach.

„Die Grenzer machten ihre Späße“

Ilja. Tontechniker, Nowosibirsk

Ich habe unlängst in einem Theater zu arbeiten angefangen. Dort hat mir alles gefallen. Vor Kurzem hatte dort das Stück eines Komponisten Premiere, an der ich als Tontechniker beteiligt war. Anschließend wollte er mich nach Moskau holen, doch daraus ist nun nichts geworden.

Ich weiß nicht, wie man mit all dem fertigwerden soll. Selbst mein Vater ist in einem Alter, wo er einberufen werden kann. Auch um ihn mache ich mir große Sorgen.

Was mich selbst angeht, so bin ich zum nächstgelegenen Grenzübergang gefahren. Mit mir im Auto saß auch ein junger Offizier, der im März bei der Armee gekündigt hatte und ziemlich panisch war, aber selbst ihn hat man durchgelassen. Die Grenzer machten ihre Späße wegen der ganzen Situation. In der Aufregung habe ich den Namen der Stadt vergessen, in die ich wollte: Pawlodar. Das hat aber keinen interessiert. Als ich sagte, dass ich zu Bekannten fahre, hieß es: Schön für Sie.

Ich will mir hier fürs Erste eine Arbeit suchen und dann nach Berlin weiterziehen. Ich habe ein Arbeitsvisum für Frankreich, spreche aber kein Französisch. In Berlin komme ich sicher auch mit Englisch zurecht.

„Kann sein, dass ich meine Ausreise noch bereue“

Sergej. Redakteur, Odinzowo bei Moskau

Bevor ich losgefahren bin, habe ich mich mit Frauen aus dem Familien- und Freundeskreis beraten, nicht mit den Männern. Das mag daran liegen, dass alle Männer – mit Ausnahme meines Vaters, für den im Moment ein „Vaterländischer Krieg gegen den Westen“ läuft – schon vor mir weggegangen sind oder auf gepackten Koffern saßen. Ihre Einstellung kannte ich auch so.

An der Grenze habe ich fast zwei Tage gestanden. In der Zeit drehte sich dort alles um den Platz in der Schlange, um die Kälte und wo man sich nachts aufs Ohr hauen kann. In der Stadt Uralsk hat mir ein Autofahrer, bei dem ich mich nur aufwärmen wollte, ein Zimmer besorgt und mich auch noch kostenlos dort hingebracht.

Irgendwann will ich nach Hause zurück, auch wenn das heute irrational klingt. Kann sein, dass ich meine Ausreise noch bereue, denn meinen Liebsten will ich damit keinen Schmerz zufügen.

„Ich verbiete mir zu träumen“

Maria. Ehefrau eines Ausgereisten, blieb mit dem gemeinsamen Sohn in Krasnojarsk

Wie ich von der Mobilmachung erfahren habe? Meine Schwester lud die Nachrichten in unserem Familienchat hoch und schrieb dazu: „Schock“. Ich habe es bis zuletzt nicht glauben wollen. Als wir auf dem Geburtstag meines Neffen waren, schwiegen alle Männer und schauten ständig auf ihre Telefone. Da wusste ich, dass ich das mein ganzes Leben nicht vergessen werde. Und dachte mir: Hoffentlich ist es nicht das letzte Mal, dass wir alle zusammen sind.

Am Morgen der Trennung haben wir unseren Sohn in den Kindergarten gebracht und anschließend gefrühstückt. Das letzte Frühstück – auch das werde ich nicht vergessen. Die Sorgen sind kaum zu beschreiben, dein Kopf ist ein einziger Schrei.

Im Internet hatte ich diverse Kanäle zum Thema Ausreise gefunden, Chats, in denen Leute ihre Erfahrungen teilten und ihre Meinung zur Lage schrieben. Unsere Wahl fiel auf Kasachstan, weil das Land am einfachsten mit dem Auto zu erreichen ist. Ich bin selbst früher nach Petropawlowsk gefahren und wusste um die Dinge, die es dabei zu beachten galt. Außerdem bin ich in Nordkasachstan geboren und habe dort alle mögliche Verwandtschaft. Aber das sind Leute mit ganz anderen Ansichten, die uns ganz sicher nicht unterstützen. Die engsten Verwandten können heutzutage zu den fernsten werden. Deshalb haben wir sie gar nicht erst kontaktiert.

Kasachstan liegt zwischen Usbekistan und Kirgistan. Alle drei Länder kenne ich und sie haben mir immer gefallen. Die Leute dort sind gutherzig und höflich, sowjetische Intelligenz und Hipster mit Oxford-Abschluss.

Pläne schmieden wir im Moment höchstens für einen Monat. Ich verbiete mir zu träumen, das macht mich am Ende nur traurig.

Einige Namen in diesem Beitrag wurden auf Wunsch der Betroffenen geändert.

Nicht nur Kasachstan

Zwischen 600.000 und einer Million Menschen hätten Russland in den zwei Wochen nach Bekanntgabe der Teilmobilmachung verlassen, schreibt „Forbes“ unter Berufung auf eigene Quellen. Das Ziel war nicht nur Kasachstan.

Großer Andrang an der russisch-georgischen Grenze (Foto: Olga Smolskaja/RIA Novosti)

Moskau–Madeira

Ich bin 45 Jahre alt, lebe in Moskau und bin Leiter einer Bildungsorganisation. Ich habe nicht in der Armee gedient: Erst studierte ich lange und dann wurden die Kinder geboren. Vor einigen Jahren erhielt ich die deutsche Staatsbürgerschaft als Spätaussiedler. Ich bin jedoch nach Russland zurückgekehrt.

Nach dem 24. Februar hatte ich schon an Ausreise gedacht. Ich schaute mir die Flugpreise an und studierte mögliche Routen. Aber ich bin geblieben. Nach dem 21. September traf ich eine Entscheidung. Gerüchtehalber wollte man die russische Grenze für wehrpflichtige Männer schließen. Nach vier Tagen bin ich mit meiner Frau mit dem Auto nach Helsinki ausgereist.

Die Grenze passierten wir ohne Probleme, wir haben ja deutsche Pässe. Meine Frau ist dann nach Moskau zurückgefahren. Ich flog von Helsinki aus nach Madeira weiter. Das war übrigens gar nicht teuer. Auf der Insel stieg ich bei Bekannten ab. Die Familie kommt später nach. Ich habe vor, aus dem Home-Office zu arbeiten.

Sotschi–Tiflis

Ich bin 33 Jahre alt, beruflich entwickle ich Software und Businessanalytik. Mein erster Gedanke zur Mobilmachung war, dass ich nun nicht mehr frei bin. Ich kann zur Schachfigur in einem fremden Spiel werden. Man kann mich jederzeit in den Kampf gegen ein Brudervolk schicken.

Ich habe keinerlei militärische Erfahrung, habe nicht in der Armee gedient, war bis zu meinem 27. Lebensjahr in der Aspirantur. Für und Wider abwägend, entschieden sich meine Freundin und ich, wenige Stunden nach der Verkündung der Mobilmachung nach Georgien auszureisen. Wir sind noch in der Nacht desselben Tages aus Sotschi losgefahren, haben alle unsere Sachen mitgenommen. Wir sind mit dem Auto gefahren, hatten große Angst, dass man uns anhält und mir den unglückseligen Einberufungsbescheid in die Hand drückt. Oder dass man uns an der Grenze nicht durchlässt.

Aber alles ging gut. Die Fahrt von Sotschi nach Tiflis dauerte 42 Stunden, 21 davon standen wir im Stau. Als wir den georgischen Kontrollpunkt erreicht hatten, stieg ich aus dem Auto, atmete tief durch und fühlte mich wieder frei. Das war ein unglaublich angenehmes Gefühl.

Die erste Zeit wohnten wir bei Bekannten unserer Bekannten, dann mieteten wir für ein halbes Jahr eine Wohnung an. Man kann jetzt schwer etwas planen, aber ich vermute, dass wir noch im nächsten Jahr hier sein werden, im sonnigen Georgien. Wir begannen die Sprache zu lernen und machen uns mit vielen Nuancen der örtlichen Kultur bekannt. Wir haben mit der Eröffnung unserer Bankkonten und anderen Formalitäten zu tun.

St. Petersburg–Tiflis

Ich bin 28 Jahre alt, von Beruf Sanitäter der Notfallmedizin. Wehrpflichtig. Am 21. September empfand ich ganz deutlich, dass die Teilmobilmachung für mich eine unmittelbare Bedrohung darstellt. Mein Freund, der in Tiflis lebt, gab mir den entscheidenden Anstoß zur Abreise. Am Morgen des 24. September flog ich von St. Petersburg nach Inguschetien (Teilrepublik im KaukasusAnm. d. Red.). Im Flughafen von Magas lernte ich junge Männer kennen, die ebenfalls die Grenze überqueren wollten. Gegen Abend erreichten wir den Stadtrand von Wladikawkas und machten uns im Regen mit Fahrrädern auf den Weg zum russisch-georgischen Grenzübergang Werchni Lars. An einem Kontrollposten mussten wir unsere Pässe vorzeigen und wurden nach dem Reiseziel gefragt. „Wir kennen euer ,Das war schon lange geplant’“, sagte ein Beamter. Aber man ließ uns gehen.

Am russischen Grenz­kontrollpunkt angelangt, ließ man uns mit den Rädern außer der Reihe durchfahren. Der übermüdete Grenzbeamte sprach mit mir kein Wort. Er machte schweigend den Stempel in den Reisepass und gab ihn mir zurück. Am schwersten waren die drei Kilometer im Niemandsland, es war sogar anstrengend, das Fahrrad zu schieben. Um sechs Uhr morgens, als es hell wurde, passierten wir die georgische Grenze.

Moskau–Limassol

Ich bin 28 Jahre alt, Programmierer. Ich habe aus gesundheitlichen Gründen nicht gedient. Meine Freundin und ich hatten Flug­tickets für den 14. Oktober nach Limassol, denn die Firma, in der ich arbeite, hat sich nach dem 24.  Februar dort niedergelassen. Wir haben uns in aller Ruhe auf die Abreise vorbereitet.

Der 21. September hat alles verändert. Während der morgendlichen Telefonkonferenz sagte der Chef: „Leute, niemand weiß, was morgen sein wird. Reist bei der erstbesten Gelegenheit aus.“ Wir schauten uns verschiedenen Varianten an, die Flugtickets gingen weg wie warme Semmeln und die Preise stiegen im Minutentakt.

Der Entschluss, zu meinem Vater nach Ufa zu fliegen, kam aus heiterem Himmel. Von dort sind es fünf Stunden mit dem Auto bis zur kasachischen Grenze. Ich packte innerhalb von einer Stunde meine Sachen, schmiss alles in den Rucksack, was hineinpasste. Abends war ich schon in Ufa. Der Vater fuhr mich schlaftrunken zu sich nach Hause, aber ich sagte ihm: „Nein, nein, wir müssen in die andere Richtung!“ Ich erklärte ihm unterwegs die Situation, suchte dabei Tickets und eine Wohnung.

Die Grenze überquerte ich am Grenzübergang Sagartschin zu Fuß. Das dauerte nicht mehr als eine Stunde, es gab keinerlei Fragen. Ich weiß, dass schon einige Tage später dort kilometerlange Autoschlangen Ausreisewilliger und hunderte Menschen in der Fußgängerschlange standen. Im grenznahen Aqtöbe konnte ich ein bisschen schlafen und am Morgen nach Almaty weiterfliegen.

Nach der Ankunft in Almaty wurde ich für meine Freundin, meinen Bruder und meinen Freund zu einem echten Verbindungsmann. Die Drei sollten meine Route in zwei Tagen wiederholen, allerdings schon unter den Bedingungen allgemeiner Panik. Ich konnte für meine Freundin einen Direktflug nach Almaty ergattern, aber wegen permanenter Übermüdung habe ich Fehler bei den Angaben gemacht. Dann wurde der Flug um mehrere Stunden verschoben, so dass wir den Anschlussflug nach Zypern nicht bekamen. Ich kann nicht genau sagen, wie viele Tickets ich in den wenigen Tagen gekauft und wieder umgetauscht habe, wie oft ich Wohnraum gebucht habe, wie viel Geld umsonst ausgegeben wurde. Aber das ist alles nicht wichtig. Meine Leute haben die Grenze auch zu Fuß überquert, das hat aber weitaus länger gedauert als bei mir.

Meine Freundin und ich sind jetzt auf Zypern. Zwischen Moskau und Limassol lagen drei Länder, fünf Flüge und einige Autos. In der Ankunftsnacht fielen wir erschöpft aufs Bett und konnten nicht glauben, dass wir trotz allem angekommen sind. Jetzt erledigen wir die Bürokratie, machen uns mit dem für uns unbekannten Land vertraut und was das wichtigste ist, wir suchen ein Heim. Das ist unglaublich schwer, denn die Nachfrage nach guten Appartements ist wahnsinnig hoch, genauso wie die Preise. Es gibt sehr viele Russen, Ukrainer und Belarussen, die auf der Suche nach einem besseren Leben hier gelandet sind, genau wie wir. Aber wir schaffen das, denn wir haben doch uns.

Moskau–Burgas

Ich bin 29 Jahre alt, arbeite als Chefredakteur einer Business-Zeitschrift. Ich hatte schon vor dem 21. September beschlossen, Russland zu verlassen. Am 20.  September kaufte ich ein Flugticket nach Istanbul für den 28. September. Ich hatte Glück, da waren die Preise noch normal. Am 28. September bin ich abgereist.

Aus Istanbul fuhr ich mit dem Bus nach Bulgarien. Ich werde jetzt erst einmal 90 Tage in Bulgarien bleiben, solange das Visum gilt. Ich hoffe, dass in dieser Zeit alles zu Ende sein wird. Wenn nicht, fahre ich in ein Land, das Russen ohne Visa aufnimmt.

Aufgeschrieben von Olga Silantjewa

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