Nowosibirsk – Neukölln in zwei Tagen

Mitte September füllten Ausstellungen und Performances die Straßen Nowosibirsks. In Galerien, genauso wie auf Straßen und Plätzen erschließt das Festival neue Räume für die zeitgenös-­sische Kunstszene der Stadt. Mit dabei: eine Delegation aus Berlin-Neukölln.

Feststimmung in Nowosibirsk. Für ein Wochenende war die sibirische Metropole Kunsthaupstadt Russlands. (Foto: Goethe-Institut)

Denkt man an Nowosibirsk, dann schießt den meisten nicht das Bild einer blühenden, jungen Kunstszene in den Kopf. Oper, klassisches Theater und Philharmonie der sibirischen Metropole sind auch russlandweit bekannt. Doch eine starke zeitgenössische Kunstszene vermuten dort die Wenigsten.
Dass diese Vorstellung von der Wahrheit weit entfernt ist, zeigt das Festival „48h Nowosibirsk“. Zum zweiten Mal seit seiner Premiere 2019 verwandelt sich die Stadt für ein Wochenende in einen Hot­spot moderner Kunst. Quer über das Zentrum verteilt stellen Galerien die Arbeiten örtlicher Künstler aus, neue vorübergehende Ausstellungsräume werden geschaffen, auch auf Straßen sind Performances omnipräsent.

In Nowosibirsk entstanden ist das Format allerdings nicht: Vielmehr handelt es sich um einen Import aus Berlin. Dort findet bereits seit 1999 das Festival „48h Neukölln“ statt, das der lebendigen Kunstszene des Bezirks zu mehr Sichtbarkeit verhelfen sollte. Das funktionierte derart gut, dass es mittlerweile vom Berliner Veranstaltungskalender kaum mehr wegzudenken ist – und der Leiter des Nowosibirsker Goethe-Instituts, Per Brandt, sich entschied, es an seinen Standort zu importieren.

Enge Verbindung zwischen Berlin und Nowosibirsk

Die beiden Editionen sind weiterhin eng verbunden. Wie bereits vor zwei Jahren war auch dieses Jahr eine Neuköllner Delegation in Nowosibirsk vertreten. Die Berliner schufen in Kooperation mit den sibirischen Kollegen gemeinsame Kunstaktionen, wie das Projekt „Parachutes“. Überall im Zentrum drapierten sie dafür etwa 50 Fallschirme, die mit QR-Codes versehen waren. Jeder davon führte das Publikum dann zu einem digital abrufbaren Kunstobjekt der deutschen und russischen Teilnehmer. Die Aktion kam fast etwas zu gut an, wie die Neuköllner Organisatorin und Kuratorin Nora Zender im Gespräch mit der MDZ erklärte: „Am ersten Tag hatten wir ungefähr 2100 Aufrufe, was aber leider nach und nach weniger wurde. Manche Festivalbesucher waren wohl so begeistert, dass sie die Fallschirme als Andenken mit nach Hause nahmen. Am Ende waren noch zwei da.“

In diesem Jahr stand das Festival unter dem Motto „Survival Bias“. Der Begriff bezeichnet ein kognitives Phänomen, bei dem die menschliche Wahrnehmung gefährlicher Situationen durch die Berichte derjenigen geprägt ist, die sie überstanden haben – den Überlebenden also. Der Rest der Datensätze bleibt sozusagen ungelesen, ein Großteil menschlicher Erfahrungen wird nicht wahrgenommen.

Installation in Fabrikambiente (Foto: Goethe-Institut)

Interaktive Installation als Höhepunkt

Übertragen auf die Kunst lässt sich das Motto als Metapher für die öffentliche Wahrnehmung begreifen. Viele gesellschaftliche Diskurse sind, vor allem in Russland, immer noch tabubehaftet und werden nur schleppend wahrgenommen. Das wirkt sich auch direkt auf die Arbeiten der Teilnehmer aus: „Die Kunst der russischen Kollegen sprach oft viel existentiellere Probleme an, als die der Deutschen“, meint Zender.
Auf extrem persönliche Weise widmete sich dem Thema das Nowosibirsker Kollektiv „Dirty Women“. In ihrer Ausstellung „Ich weiß nicht …“ thematisierten die sieben Künstlerinnen all diejenigen Erfahrungen, die sie sonst im Verborgenen halten oder sogar sich selbst nicht eingestehen. Sie verarbeiten also genau die Dinge, die der „Survival Bias“ für gewöhnlich ausblendet und unter Tage lässt. Zum Vorschein kommen kann dabei von kleinen Ängsten bis traumatischen Erfahrungen alles.

Den Höhepunkt der Ausstellung bildeten aber nicht die Werke der Künstlerinnen, sondern eine interaktive Installation. Am Ende des Raumes trafen die Besucher auf eine Wand, auf der sie selbst unter dem Thema „Ich weiß nicht …“ ihre eigenen verdrängten oder unter Verschluss gehaltenen Erfahrungen beitragen konnten. „Vielen fiel es schwer, etwas in sich zu finden, worüber sie sich im eigenen Leben vielleicht gar nicht bewusst sind“, berichten Olga Posuch und Irina Ko­ro­ta­jewa von den „Dirty Women“. „Die Leute haben am Ende alles Erdenkliche aufgeschrieben: Liebesgeständnisse, Straftaten, Überlegungen dazu, wer sie eigentlich sind. Manche weinten sogar dabei.“

Auch pikante Themen angesprochen

„Dirty Women“ haben durchaus Erfahrung mit der künstlerischen Thematisierung von schwer Sagbarem. Die Gruppe gründete sich erst 2019 extra für die erste Auflage von „48h Nowosibirsk“. Bis dahin waren viele Werke der Frauen, die sich besonders oft mit Themen wie weiblicher Sexualität, dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern, oder besonders pikanten Randphänomenen wie Prostitution auseinandersetzten, von Ausstellern zurückgewiesen worden.

Mit dem Goethe-Institut fand sich dann allerdings ein Partner, der die Behandlung solcher Themen förderte. Das traf einen Nerv: Die erste Veranstaltung sei viel feministischer gewesen, erklären Posuch und Korotajewa. Viele junge Frauen seien am Rande der Ausstellung zu ihr gekommen und hätten sich bedankt. Die Repräsentation weiblicher Emanzipation war zwar bis dahin kein Bestandteil der Nowosibirsker Kunstszene – beim Publikum traf sie aber auf offene Ohren.

So bleibt zu hoffen, dass „48h Nowosibirsk“ auch nachhaltig eine positive Rolle für die zeitgenössische sibirische Kunst spielen kann. Der Andrang auf das Festival, der auch in diesem Jahr groß war, hat zumindest punktuell die Sichtbarkeit moderner Kunst in der Stadt erhöht. Und auch zwischen den Festivals scheinen sich mehr Räume zu ergeben: Einige der Ausstellungsorte, die 2019 ins Leben gerufen wurden, bestehen seitdem weiter. Galerie für Galerie wird die lokale Szene lebendiger.

Thomas Fritz Maier

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