Zu Fuß durch ganz Moskau: Wie ich zum „Helden“ wurde

Moskau ist in den letzten Jahren zweifellos fußgängerfreundlicher geworden. Doch allein durch seine Entfernungen bleibt es eine Stadt der Extreme. Was, man sie zu Fuß erobern und von einem Ende zum anderen durchqueren will? Ein Selbstversuch.

Moskaus Betondschungel werden immer wieder von Naturdschungel gebrochen. (Foto: Tino Künzel)

Einmal quer durch Moskau zu laufen, ist ein ziemlich schräges Unterfangen. Von objektiven Zwängen ist es jedenfalls nicht diktiert. Moskau mag eine Stadt der langen Wege sein, doch es gibt genug Möglichkeiten, sie abzukürzen. Allein das Metronetz ist in den letzten Jahren immer engmaschiger geworden. Bezieht man das Preis-Leistungs-Verhältnis mit ein, verfügt Moskau über eines der besten Nahverkehrssysteme der Welt.

Die Frage nach dem Warum

Wer bewusst auf solche Annehmlichkeiten verzichtet, der bekommt die Dimensionen dieser Riesenstadt mit ihren offiziell 12,6 Millionen Einwohnern – mehr als das Dreifache von Berlin – ganz anders zu spüren. Und man muss sich schließlich etwas einfallen lassen, will man nicht nur stumm daneben sitzen, wenn russische Freunde mal wieder von ihren extremen Körperertüchtigungen berichten, die angeblich das Wohlbefinden steigern, aber vor allem damit zu tun haben, etwas aushalten zu können. Sei es, dass zum Baden ins Eisloch klettern, sei es, dass sie sich umgekehrt in einen Schwitzkasten namens Banja nehmen lassen, bis ihnen der Dampf aus den Ohren kommt, und gegenseitig mit Birkenzweigen verprügeln.

Ein Fußmarsch durch Moskau ist keine solche Schocktherapie für Körper und Geist, hat aber allemal das Zeug dazu, mit einer ähnlich abgedrehten Geschichte dagegenzuhalten und sie mit den Worten beginnen zu lassen: „Das ist ja noch gar nichts.“ Die Leistungs- und Leidensfähigkeit werden unbedingt auf die Probe gestellt. Überwindung kostet dieses kleine große Stadtabenteuer freilich erst mit fortschreitender Zeit. Auch sonst werden keinerlei spezielle Voraussetzungen verlangt. An Ausrüstung sollte man lediglich ein Handy dabei haben, um unterwegs Kurs zu halten und ein paar Beweisfotos zu schießen.

Ich habe mir auch eigens eine Fitness-Tracking-App heruntergeladen, schon um meine Schritte zählen zu lassen. Die App wird mir den gesamten Tag über zujubeln, mir virtuell auf die Schulter klopfen und zurufen: „Weiter so!“ Die Level des Schrittzählers haben motivierende Bezeichnungen. Das erst heißt „Tschüs, Sofa“.

Fußweg der Superlative

Ich starte an der Metrostation Medwedkowo im Norden von Moskau. Von hier ist es nicht mehr weit bis zur Moskauer Ringautobahn MKAD, die traditionell als Stadtgrenze gilt, auch wenn Moskau hier und da schon auf die andere Seite hinübergeschwappt ist. Irgendwann heute möchte ich bei der Metrostation Jassenewo ganz im Süden ankommen. Laut Yandex ergibt das einen Fußweg von 36 Kilometern. Selbst der Metrozug – beide Stationen gehören zu einer Linie – braucht für die Distanz 55 Minuten. Ein ziemliches Pfund also. So weit bin ich garantiert noch nie gelaufen. Meist siegt ohnehin die Bequemlichkeit über diverse gute Vorsätze. Meine Form ist deswegen einigermaßen zweifelhaft. Aber Bewegung kann auf jeden Fall nicht schaden.

Jeder schafft sich auf seine Weise. (Foto: Tino Künzel)

Medwedkowo ist eines der typischen sowjetischen Stadtviertel an der Moskauer Peripherie. Erst 1960 eingemeindet, wurde es hauptsächlich in den 60er, 70er und 80er Jahren aus dem Boden gestampft. Der Bezirk hat mehr als 213.000 Einwohner und damit mehr als so manche regionale Hauptstadt in Russland. Klar, dass er auch eine Metrostation haben musste. Sie wurde 1978 eröffnet, als Endstation der orangen Linie.

Moskaus grüne Seite

Schon nach fünf Minuten im Freien würde ich mich am liebsten im nächsten Schnellrestaurant verkriechen. Es ist einer der vielen kalten Tage dieses Winters in Moskau. Mittagstemperatur: minus 14 Grad. Aber ich bin ohnehin spät dran, also ziehe ich den Kopf ein und laufe los. Medwedkowo hatte mich als Startpunkt gereizt, weil der Blick auf die Karte ergab, dass es von der Metrostation keine hundert Meter ins Grüne sind. Das Grüne ist zwar noch weiß, aber tatsächlich reiht sich auf den ersten fünf Kilometern meiner Wanderung nach Süden ein Park an den anderen. Ich begegne Skifahrern, Schlittschuhläufern, rodelnden Kindern, Spaziergängern, nur nicht Moskau, so wie man es kennt. Es ist vor lauter Natur nicht zu sehen und sogar akustisch weit weg. Aber auch das ist ja gar nicht so untypisch, wie man meinen könnte. Vor zwei Jahren meldete PricewaterhouseCoopers, Moskau sei unter zwölf Weltstädten – darunter New York, London und Berlin – die mit der größten Fläche an Parks pro Kopf.

Die Parks auf meinem Weg schlängeln sich an der Jausa entlang, die viele Kilometer weiter im Stadtzentrum in die Moskwa münden wird. Sie sind allesamt wunderschön ausgebaut und gepflegt. In der warmen Jahreszeit ist hier sicher noch viel mehr Leben als an diesem Mittwochnachmittag Ende Februar, doch auch der Bilderbuchwinter steht ihnen bestens. Ab und zu gibt es gute Gründe, einen kleinen Umweg einzulegen, zum Beispiel wegen der bezaubernden Mariä-Schutz-und-Fürbitte-Kirche von 1635, dem einzigen historischen Gebäude in Medwedkowo. Sie steht oben auf einer Anhöhe und ist von unten wegen des dichten Baumbestands kaum zu erspähen, ihr Friedhof in Hanglage ist sicher einer der schönsten Plätze in Moskau für die letzte Ruhe. Es lohnt, sich das aus der Nähe anzusehen.

Stolz, vergammelt, wieder stolz

Das Messegelände WDNCh ist der erste große Besuchermagnet auf der Strecke. Angelegt in der Vor- und Nachkriegszeit, bietet es allerlei Attraktionen und im Winter eine der größten Eisbahnen von Moskau. Berühmt ist das WDNCh für seine Prachtpavillons, in denen sich zu Sowjetzeiten die einzelnen Republiken präsentierten und Wirtschaftszweige ihre Errungenschaften demonstrierten, auf dass das Volk über den Härten des Alltags nicht das große Ganze vergaß. Doch als die Sowjetunion dann implodierte, verfiel das Gelände zusehends. Von einem Morgenland im Arbeiter- und Bauernstaat, einem Pilotprojekt der lichten kommunistischen Zukunft, wurde es zu einem Markt- und Rummelplatz. In die stolzen Pavillons zogen etwa Teppich- und Honighändler ein.

Die Metrostation WDNCh (Foto: Tino Künzel)

Es dauerte mehr als 20 Jahre, bis der Wind sich erneut drehte und ein neuer Geist Einzug hielt. Der billige Kommerz ist längst vertrieben, die Pavillons sind wieder in Schuss gebracht und zumindest einige von ihnen werden von ehemaligen Sowjetrepubliken auch wieder als Ausstellungsfläche genutzt. Die Ukraine, versteht sich, gehört nicht dazu.

Am Prospekt Mira entlang geht es weiter in Richtung Zentrum. Nicht nur überirdisch wird die Stadt immer älter, sondern auch unterirdisch. Die Metrostationen WDNCh und Prospekt Mira sind bereits von 1958, die Station Lubjanka wurde als Teil der allerersten Metrolinie 1935 eingeweiht. Was selbst von den Moskauern die wenigsten wissen: Der Beschluss zum Bau der Metro wurde gefasst, nachdem ein Megаstau den Verkehr in der Stadt komplett lahmgelegt hatte. Vor 90 Jahren, am 6. Januar 1931, ging auf Moskaus Straßen überhaupt nichts mehr. Zehn Monate später erfolgten im Stadtbezirk Sokolniki die ersten Spatenstiche für die Metro.

Ab durch die Mitte

Vom Lubjanka-Platz ist es nur noch ein Katzensprung bis zum Roten Platz. Die Fußgängerpassage dazwischen, die Nikolskaja Uliza, kam während der Fußball-WM 2018 zu besonderen Ehren. Von den ausländischen Fans wegen ihrer extravaganten Beleuchtung „Street of Light“ getauft, wurde sie zu einer Feiermeile, auf der sich die Gäste aus aller Welt verbrüderten. Die Nikolskaja endet am GUM, dem legendären Moskauer Kaufhaus, das sich in letzter Zeit auch um die Gesundheit seiner Besucher verdient macht: Hier wird – wie an vielen anderen Orten in der Stadt – gegen Covid geimpft, kostenlos und ohne Voranmeldung.

Die Nikolskaja mit dem GUM (links) um die Ecke vom Roten Platz (Foto: Tino Künzel)

Mit dem Kreml vor Augen ist ungefähr die Hälfte meines Fußwegs durch Moskau geschafft. Große Entdeckungen sind hier nicht zu machen, dafür hat man das alles zu oft gesehen, doch der Anblick ist jedes Mal wieder erhebend. Und auch der Ausblick von der Großen Moskwa-Brücke hinüber ins schöne Altstadtviertel Samoskworetschje, wo sich unter anderem die Tretjakow-Galerie befindet. Die Brücke ist der ideale Standort für ein 360-Grad-Moskau-Panorama, auf dem ein Maximum an Sehenswürdigkeiten versammelt ist, vom Kreml und dem Roten Platz über die mächtige Christ-Erlöser-Kathedrale und das Wolkenkratzer-Viertel Moskau-City am Horizont bis zum Park Sarjadje und dem Hochhaus an der Kotelnitscheskaja-Ufertraße, einer der sogenannten „Stalin-Schwestern“.

Hat man Samoskworetschje einmal passiert, wird Moskau langsam wieder sowjetisch. Die letzten bemerkenswerten Bauten auf der Tour sind die Danilow-Markthalle (in der Nähe des Danilow-Klosters) und eines der längsten Häuser in der Stadt: Das „Haus der Atomenergetiker“ an der Metrostation Tulskaja, auch „Schiffshaus“ oder „liegender Wolkenkratzer“ genannt, wurde 1986 fertiggestellt. Es steht auf Pfeilern, ist 400 Meter lang und 15 Meter hoch.

Mit letzter Kraft ins Ziel

Der Rest zieht sich. Die letzten 13 Kilometer sind entlang des Sewastopoler Prospekts zurückzulegen. Der Schauwert hält sich in Grenzen. Abgesehen davon ist es inzwischen auch dunkel. Und nicht überall sind die Bürgersteige so breit und einladend wie im Zentrum. Vorbei an Plattenbaugebieten aus der späten Sowjetzeit ist deshalb eher Kilometerschrubben angesagt. Wen hier der sportliche Ehrgeiz verlässt, der kann an den Haltestellen zwischendurch auch mal den Bus nehmen. Muss man ja später keinem auf die Nase binden.

Ich schaffe mir ein wenig Abwechslung, indem ich einige Kilometer durch den – schneehellen – Bitzewskij-Wald stapfe. Der macht immerhin zwei Drittel des Moskauer Außenbezirks Jassenewo aus, einem der jüngsten in der Stadt. Glaubt man Wikipedia, ist die Umweltbelastung hier besonders niedrig. Dafür nennt Jassenewo den höchstens Punkt von Moskau sein eigen, sagenhafte 255,2 Meter über dem Meeresspiegel. Bekannt ist er auch für das Wintersportzentrum Uskoje, das mit Abfahrtspisten und Langlaufloipen aufwartet.

Ansonsten sieht es in Jassenewo mit seinen Wohnblocks auf der „grünen Wiese“, seinen Einkaufszentren und Restaurantketten aus wie auch anderswo an Moskaus Rändern. Nur ist hier alles etwas neuer und weitläufiger. Spätabends, im einsetzenden Schneefall, wirkt das Viertel teils sogar idyllisch. Vielleicht bin ich aber auch nur milde gestimmt, weil es dem Ende entgegengeht. Als ich an der 1990 eröffneten Metrostation Jassenewo anlange, zeigt die Fitness-Tracking-App 47.227 Schritte für den Tag an. Den beende ich somit auf dem Level „Held“.

Viel mehr Schritte hätten es aber auch nicht sein dürfen. Der Geist ist noch willig, aber das Fleisch macht schlapp. Jetzt bekommen sie etwas zu hören, die Eisbader und Banjagänger.

Tino Künzel

Spaß? „Auf den ersten 30 Kilometern“

Auch Viktor Spakow (32), Leiter der Rechtsabteilung bei der Auslandshandelskammer (AHK), hat diesen Winter einen 40-Kilometer-Fußmarsch durch Moskau hingelegt. Sein Weg führte dabei vom Südlichen zum Nördlichen Busbahnhof. Beide sind an der Ringautobahn MKAD gelegen.

Gab es einen speziellen Grund, weshalb Sie sich diesen Kraftakt zugemutet haben?

Ich habe mir das Ziel gesetzt, in diesem Jahr fitter zu werden. Und ich liebe Spaziergänge. Außerdem gab es Leute in meinem Umfeld, die gesagt haben: Zu Fuß quer durch Moskau – das ist unmöglich. Denen wollte ich das Gegenteil beweisen und das habe ich geschafft.

Hat es Ihnen denn Spaß gemacht?

Auf den ersten 30 Kilometern. Dann bin ich deutlich langsamer geworden und musste mehr Pausen einlegen. Es war auf jeden Fall eine Herausforderung. Jetzt nehme ich mir sogar eine noch längere Distanz von 50 Kilometern vor, mit Start und Ziel jeweils jenseits der Ringautobahn und wiederum quer durch die Stadt.

Was waren unterwegs Ihre Lieblingsmomente?

Der Streckenabschnitt im Zentrum. Und der Moment, als ich nach Hause gekommen bin und mich aufs Bett fallen lassen konnte. Da war ich happy.

Welche Tipps können Sie denen geben, die so ein Vorhaben ebenfalls wagen wollen?

Motivation ist schon die halbe Miete. Man sollte sich im Klaren sein, dass Moskau nicht überall wunderschön ist. Ich bin ein großer Moskau-Fan und auch hier geboren, aber das ist eine Tatsache und in anderen Städten ja auch nicht anders. Absolut unnötig ist ein schwerer Rucksack mit Lebensmitteln, wie ich ihn mit mir herumgeschleppt habe. Was man an Verpflegung braucht, kann man sich alles unterwegs besorgen.

Das Interview führte Tino Künzel.

Newsletter

    Wir bitten um Ihre E-Mail: